PACING - KLEINE ZIELE
Es ist besser mit vielen kleinen Schritten das Ziel zu erreichen,
als sich bei einem grossen Sprung die Beine zu brechen.
Nichts geht mehr
Ich bestehe fast nur noch aus Schmerz, die kleinste Aufgabe scheint zu gross und ich fühle mich so unglaublich erschöpft! Im Sommer 2020 waren für mich die kleinsten alltäglichen Dinge wahnsinnig kräftezehrend. Ich erinnere mich, dass ich mir an einem Tag vorgenommen hatte, eine Mail zu schreiben und eine Rechnung zu bezahlen. Das klingt nach extrem wenig und früher, wäre das lachhaft gewesen. Aber in dieser Zeit war es genau so anstrengend, wie einen Tag lang zu unterrichten, dabei x-Mails zu beantworten und am Abend noch eine Sitzung zu haben.
Inzwischen kann ich wieder fast normal arbeiten und habe mehr Energie 😊. Dabei geholfen hat mir das sogenannte «Pacing» - auf Deutsch: abgestufte Belastung. Wie funktioniert das?
Eingesperrt!
Durch Schmerzen ziehst du dich intuitiv immer mehr zurück: Du tust etwas und deine Schmerzen werden stärker. Deshalb ruhst du dich aus und fühlst dich dadurch wieder besser, doch durch die Inaktivität wird dein Körper schwächer und dein Schmerzlevel sinkt. Bist du wieder aktiver, zum Beispiel weil du einen deiner guten Tage hast, erreichst du deine Schmerzgrenze früher als zuvor.
Ein Beispiel: Beim Sport hast du starke Rückenschmerzen. Du versuchst dein Training trotzdem durchzuziehen, aber irgendwann geht es einfach nicht mehr und du gehst nicht mehr zum Sport. Dann tauchen die Schmerzen plötzlich bei der Gartenarbeit auf und werden irgendwann so schlimm, dass du nicht mehr in den Garten gehst. Auf einmal sind auch Kochen und Backen so schmerzhaft, dass du immer weniger in der Küche stehst und irgendwann gar nicht mehr kochst. Sport machen, im Garten arbeiten, kochen und backen sind in deinem Gehirn nun mit Gefahr verbunden.
So als ob sie von einem elektrischen Zaun umgeben sind, schmerzt irgendwann nur schon der Gedanke an bestimmte Tätigkeiten. Aus Angst, dem Zaun zu nahe zu kommen, ziehst du dich immer weiter zurück, bis du dich irgendwann nicht mehr rühren kannst und das Gefühl hast, festzustecken.
Die Folgen:
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Die Schmerzschübe werden immer stärker.
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Regelmässig zur Arbeit zu gehen, wird zunehmend schwieriger.
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Nicht du entscheidest, was du wann tust, sondern deine Schmerzen.
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Vorausplanen ist schwierig geworden, weil die Schmerzen jederzeit dazwischenfunken könnten.
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Du hast das Gefühl, dass du nichts auf die Reihe kriegst und bist frustriert.
Aber, ich muss doch...
Kennst du diese Gedanken?
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«Ich habe keine andere Wahl, als … zu machen.»
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«Wenn die Schmerzen stärker sind, kann ich nicht so viel machen, wie ich möchte.»
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«Wenn ich weniger Schmerzen haben, kann ich endlich wieder aktiver sein.»
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«Ich fühle mich einfach besser, wenn ich etwas zu Ende bringe.»
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«Ich muss einfach aktiv sein. Das macht mir Spass und lenkt mich von den Schmerzen ab.»
Diese Gedanken führen dazu, dass du weiterhin in einem Kreislauf aus «Nachlassen der Schmerzen - Überaktivität - Zunahme der Schmerzen - Ruhe und Frustration» feststeckst.
Doch, wie kommst du da raus?
Pacing
Das Zauberwort lautet «Pacing», also so viel wie «kleine Schritte». Du verabschiedest dich von deinen Höhen und Tiefen und konzentrierst dich auf ein gleichmässiges Aktivitätslevel, das du ganz langsam steigern kannst.
Warum? Nimmst du dir zu viel vor, wirst du dich körperlich überfordern und Limbisch und Bodyguard ziemlich schnell in Panik versetzen. Sie werden versuchen, dich in Zukunft vor dieser Tätigkeit zu schützen – zum Beispiel indem nur schon der Gedanke an die Tätigkeit mit Angst und Schmerz verbunden ist… Setzt du dir hingegen kleine, erreichbare Ziele, führt das zu positiven Gefühlen, dein Körper kann Kraft aufbauen, Limbisch freut sich, Bodyguard fühlt sich sicher und beide werden dich auch in Zukunft dabei unterstützen, deine Ziele zu erreichen.
Wie geht Pacing?
Überlege dir zuerst, welche Tätigkeit du Schritt für Schritt aufbauen möchtest. Wenn möglich ist es etwas, das du sehr gerne wieder machen würdest.
Für Intuitive
Kleine Schritte
Mache weniger, als du eigentlich könntest. Fange winzig klein an. So klein, dass dir das Ziel, das du dir setzt, geradezu lächerlich vorkommt. Steigere deine Aktivität gaaanz langsam (z.B. jeden Tag eine Minute mehr). Wenn du sogar beim Gedanken an die Tätigkeit mehr Schmerzen hast, starte mit Visualisierungen. Mach nicht mehr, als du dir vorgenommen hast, auch wenn du dich danach fühlst. Sonst hast du danach möglicherweise wieder mehr Schmerzen und steckst wieder im Kreislauf.
Pausen
Gehe nie ans Limit. Lege regelmässige Pausen ein, egal was du gerade tust.
Spürst du während der Aktivität plötzlich mehr Schmerzen, hältst du inne und konzentrierst dich auf deinen Atem. Spüre in deinen Körper hinein und nimm ohne zu urteilen wahr, was gerade passiert (Somatic Tracking). Nimmt der Schmerz irgendwann ab, kannst du weitermachen. Bleibt er gleich, hörst du auf und du machst morgen noch einmal einen Versuch. Dann nimmst du dir aber weniger vor – zum Beispiel nur fünf Minuten Rasenmähen anstatt zehn.
Teilziele
Du hast grosse Ziele? Zerlege sie in winzig kleine Teile. Wenn du wieder acht Stunden am Stück wandern möchtest, starte mit Spaziergängen von zehn Minuten. Feiere jeden kleinen Erfolg!
Für Planer*innen
1. Dein aktuelles Leistungsniveau
Finde heraus, was du im Moment ohne zusätzliche Schmerzen schaffst. Das kann einige Tage dauern und du wirst wahrscheinlich mehrere Versuche brauchen. Das Leistungsniveau sollte auch für Tage stimmen, an denen du mehr Schmerzen hast. Verurteile dich nicht, wenn es weniger ist, als du gerne hättest.
Bei einigen Aktivitäten kannst du die Zeit messen und dann den Durchschnittswert nehmen.
Beispiel: am Montag konntest du 15 Minuten spazieren, am Dienstag 5 Minuten, am Mittwoch 15 Minuten und am Donnerstag 10 Minuten. Das heisst dein Leistungsniveau liegt zurzeit bei 11 Minuten.
2. Dein Anfangswert
Starte knapp unter deinem aktuellen Leistungsniveau. Bewährt hat sich ein Ausgangswert von achtzig Prozent des Leistungsniveaus (Leistungsniveau durch fünf mal vier oder Leistungsniveau mal 0.8 – für alle, die wie ich keine Mathegenies sind 😉). Wenn du nicht sicher bist, wie viel das bei dir ist, starte einfach mit einem Anfangswert, von dem du ganz sicher bist, dass du ihn beim ersten Mal ohne Probleme erreichen kannst. Am Anfang kann es dir so vorkommen, als ob du einen Rückschritt gemacht hast. Aber über kurz oder lang wirst du mehr leisten können, als vorher.
Beispiele:
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Du kannst durchschnittlich 11 Minuten am Stück spazieren. Dann liegt dein Anfangswert bei 9 Minuten.
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Du kannst im Moment 5 Stunden am Computer arbeiten. Dann liegt dein Anfangswert bei 4 Stunden.
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Du kannst 15 Minuten im Garten arbeiten. Dann liegt dein Anfangswert bei 12 Minuten.
3. Deine Steigerung
Gehörst du zu den Menschen, die schon rennen wollen, bevor sie laufen können? Dann ist die laaaangsame, gleichmässige Steigerung für dich besonders wichtig. Möchtest du zu viel in zu kurzer Zeit, überanstrengst du dich, musst dich ausruhen und bist zurück im negativen Kreislauf. Nimm dir eine realistische Steigerung vor, die du durchziehen kannst. Ist besser fürs Ego und steigern kannst du später immer noch 😉.
Beispiele:
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Du startest mit 9 Minuten spazieren am Tag und steigerst dich jeden Tag um eine Minute.
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Du startest mit 4 Stunden Arbeit am Computer und steigerst dich jeden zweiten Tag um fünf Minuten.
4. Dein Pacing-Plan
Schreibe dir auf, was du machen möchtest und wie deine Steigerung aussieht. Halte jeden Tag fest, was du gemacht hast. So kannst du sehen wie’s läuft.
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Du machst Fortschritte: Super! Klopf dir auf die Schulter. Mach weiter so!
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Du machst keine Fortschritte oder sogar Rückschritte: Klopf dir auf die Schulter, du hast trotzdem hart gearbeitet. Überlege dir woran es liegen könnte. Ist dein Anfangswert zu hoch? Hast du dir zu viel vorgenommen? Ist deine Steigerung zu ehrgeizig?
PS: Meine Erfahrung muss nicht deine sein, aber bei mir hat dieser Prozess ziemlich lange gedauert. Ich habe «Graded Exposure and Pacing» bei all meinen Schmerzen angewandt und bin immer noch dran. Bei meinen Händen war es besonders extrem: Zu Beginn hat bei mir nur schon der Gedanke an einen Bleistift in meiner Hand ausgereicht, um stechende und brennende Schmerzen in meiner Hand und meinem Unterarm auszulösen. Deshalb habe ich damit angefangen, während Zoom Meetings einfach einen Bleistift zu halten – nichts mehr. Danach habe ich mit zwei Minuten zeichnen pro Tag angefangen. Nach sechs Monaten war ich bei ungefähr einer Stunde, wenn ich sonst nicht gearbeitet habe. Nach einem Jahr konnte ich in den Ferien zweieinhalb Stunden am Stück zeichnen. Nun, eineinhalb Jahre später habe ich einen grossen Auftrag für Illustrationen und kann fast ohne Limit arbeiten. Komplet schmerzfrei bin ich noch nicht, aber es behindert mich nicht mehr beim Arbeiten.