Was ist Schmerz?
Die Schottin Jo Cameron hat das «Superhelden-Gen». Sie spürt keine Schmerzen. Eine traumhafte Vorstellung – gerade für Menschen mit chronischen Schmerzen! Doch ein Leben ohne Schmerz kann ganz schön gefährlich werden. Wenn Cameron sich das Bein bricht, spaziert sie fröhlich weiter in der Gegend umher. Wenn sie eine Blinddarmentzündung oder ein Loch im Zahn hat,
bemerkt sie das gar nicht.
Schmerz ist überlebenswichtig
AUA, AUA, AUA – Schmerzen verlangen sofort unsere Aufmerksamkeit. Anders als Jo Cameron, die wegen ihrer seltenen Genmutation keine Schmerzen empfindet, merken wir sofort, wenn wir uns das Bein gebrochen haben. Die Schmerzen sind so stark, dass wir das Bein auf keinen Fall mehr belasten wollen. Sie schützen uns davor, unseren Körper weiter zu schädigen und sorgen dafür, dass die verletzte Stelle geschont wird. Akuter Schmerz ist also ein Alarmzeichen unseres Körpers. Er fühlt sich nicht gut an, aber er ist wichtig.
Wie entsteht Schmerz?
In unserem Körper haben wir ein feines Netz aus Nervenfasern. Die Nervenenden sind wie kleine Fühler (Rezeptoren), die alles wahrnehmen, was in unserem Körper passiert und die Informationen ans Gehirn weiterleiten. Das Gehirn wertet die Informationen aus und gibt entsprechende Informationen durch die Nervenfasern wieder zurück in den Körper.
Dieser Vorgang ist ziemlich komplex, doch man kann ihn mit einem Feueralarm vergleichen. Die Rauchmelder wissen nicht direkt, dass ein Feuer ausgebrochen ist, sie spüren nur Hitze und Rauch. So spüren auch die Nervenzellen nicht den Schmerz direkt. Sie nehmen nur Druck, Temperatur, Hormone, Berührung und Dehnung wahr. Verändern sich diese, kann das bedeuten, dass eine Verletzung vorliegt, aber es muss nicht sein. Die Nervenzellen leiten die Informationen ans Gehirn weiter. Erst dort wird entschieden, ob der Alarm ausgelöst wird oder nicht. Das Gehirn berücksichtigt aber nicht nur die Informationen der Nervenzellen, sondern auch unsere Stimmung, unsere Umgebung, unsere Erinnerung und unser Glaube über unsere Gesundheit und unseren Körper. Erst mit all diesen Informationen stellt es sich dann die entscheidende Frage: Muss ich mich selbst beschützen? Lautet die Antwort «JA!», löst es Schmerz aus und projiziert ihn auf den Körper. Schmerz ist also immer ein Output des Gehirns und kein Input des Körpers!
Egal, was den Schmerz auslöst, der Feueralarm dröhnt immer in der gleichen Lautstärke.
so sieht das ungefähr im Körper aus...
Unser Gehirn entscheidet über die Schmerzintensität. Je nachdem, in welcher Situation wir uns befinden, nehmen wir Schmerz anders wahr. Vom Löwen verfolgt, ist ein gebrochenes Bein egal, jetzt geht es ums Überleben! Die Anwesenheit von geliebten Menschen entspannt und kann sogar Schmerzen lindern. Das liegt daran, dass Limbisch und damit auch der Bodyguard sich in Anwesenheit von anderen Menschen sicherer fühlen und entspannter sind. Im Gegensatz dazu verstärken beispielsweise Einsamkeit, finanzielle Probleme, Angst oder Verzweiflung die Schmerzen.
Bei akuten Schmerzen ist dieses Alarmsystem hervorragend und sorgt für unser Überleben. Es kann jedoch passieren, dass sich Schmerzen verselbstständigen und bleiben, obwohl es keine körperliche Ursache (mehr) gibt. Der Körper und das Gehirn kommunizieren über die Nervenfasern ständig miteinander. Und genau wie zwischen zwei Menschen, kann es auch zwischen Körper und Gehirn Missverständnisse geben.
Fehlalarm
Ellie sitzt weinend neben einer Baustellengrube. Da kommt ein Polizist. Er fragt: "Aber warum weinst du denn?" "Meine Mutter ist in die Grube gefallen!" Sofort stürzt sich der Polizist in die Grube. Fünf Minuten später... Der Polizist kommt total außer Atem wieder aus der Grube. "Ich konnte deine Mutter nicht finden!" Ellie: "Na toll! Dann kann ich die Schraube aber auch wegwerfen, wenn ich keine Mutter zum Befestigen habe."
Wie in diesem Witz, gibt es Situationen, in denen unser Gehirn Informationen aus dem Körper falsch versteht. Ellie ist in diesem Fall unser Körper und der Polizist das Gehirn. Ein besonders schönes Beispiel für ein Missverständnis zeigt auch die Geschichte eines Bauarbeiters aus dem Jahr 1995:
Der Bauarbeiter landete aus Versehen auf einem 15 Zentimeter langen Nagel. Der Nagel ging durch den Schuh und kam oben wieder heraus. Der Mann litt Todesqualen. Sofort brachten ihn seine Arbeitskollegen ins Krankenhaus. Dort entfernte man vorsichtig den Schuh und sah … nichts! Da war kein Blut, keine Wunde, nicht einmal ein Kratzer. Wie durch ein Wunder war der Nagel zwischen seinen Zehen durchgegangen und hatte ihn nicht verletzt.
Doch weshalb hatte er trotzdem solche Schmerzen? Durch den Nagel, der aus dem Schuh herausschaute, nahm das Gehirn des Mannes an, dass er verletzt ist. Deshalb interpretierte es alle ungewohnten Signale aus dem Fuss – wie der Nagel zwischen den Zehen – als Schmerz. Sein Gehirn hat die Situation als gefährlich eingestuft und versuchte den Bauarbeiter vor weiteren Schäden zu schützen, indem es den Alarmknopf drückte. Doch es war ein Fehlalarm. Der Fuss des Mannes war nie in Gefahr.
Bei vielen Menschen mit chronischen Schmerzen ist die körpereigene Alarmanlage super sensibel eingestellt. Der Alarm geht beim kleinsten Anlass los und dröhnt in voller Lautstärke "AUA! AUA! AUA! ..."., obwohl da gar kein Feuer (mehr) ist.
Doch wie kommt es dazu, dass dazu die Alarmanlage so sensibel wird?