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Jann

Long Covid

Ich habe ein komplett neues Verständnis von Long Covid.

WELTWEIT

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Unerklärliche Symptome

 

Es war am Tag nach dem Eishockey-Training, als ich drei Wochen nach meiner zweiten, vermeintlich überstandenen Covid-19-Infektion krank aufgewacht bin. Damals dachte ich noch, es handle sich um einen weiteren Virus-Infekt. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig: Ich war in der Abschlussphase meiner Doktorarbeit in Physik. Nach einem Halbtag Pause ging es mir etwas besser und ich setzte mich erneut an mein 500-Seiten Dokument. Im Verlauf der nächsten Wochen häuften sich diese Krankheitseinbrüche, oft nach körperlicher Anstrengung wie Joggen, Yoga oder Krafttraining. Der Abgabetermin rückte näher und es kamen neue Symptome hinzu. Ich fühlte eine bleierne Schwere im ganzen Körper, plötzlich auftretender Schwindel und starker «brain fog» erschwerte mir das Denken. Ein unerklärliches Flimmern vor den Augen, das mir teilweise sogar das Lesen verunmöglichte, machten mir Sorgen. Es hat viel von mir abverlangt, in dieser Verfassung meine Doktorarbeit fertigzustellen.

 


Diagnose Long Covid

 

Endlich war die Abgabe geschafft und ich konnte mich meiner Gesundheit widmen. Mit einer vollen A-4 Seite an Symptomen, die sich seit Monaten einfach nicht bessern wollten, ging ich Anfang Januar 2024 zu meiner Hausärztin. Schon nach meiner ersten Corona-Infektion ein Jahr zuvor, hatte ich nach einer harmlos verlaufenden Krankheitsphase einen diffusen Druck in der Brust und im Rücken. Die kardiologische Untersuchung war unauffällig und der Druck verschwand nach einiger Zeit. Nun war er nach der zweiten Infektion wieder da. Zusammen mit der bleiernen Schwere, dem Schwindel, dem «brain fog» und dem Augenflimmern. Hinzu kamen Bauchbeschwerden, Schlafprobleme, nächtliche Schweissausbrüche und eine allgemeine Überempfindlichkeit auf äussere Reize. Trotzdem waren alle meine Blutwerte normal und auch eine MIR-Untersuchung meines Gehirns zeigte keine Auffälligkeiten. Die Symptome und der Krankheitsverlauf passten jedoch eindeutig in ein mittlerweile bekanntes Krankheitsbild: Long Covid.

 

 

Die Abwärtsspirale beginnt

 

Endlich hatte ich eine Diagnose. Doch die anfängliche Erleichterung verflog rasch, als ich realisierte, wie wenig die Wissenschaft über Long Covid weiss. Meine ersten Versuche, mich nach dem Doktoratsabschluss von der Krankheit zu erholen, scheiterten kläglich. Immer wenn ich mich besser fühlte und Dinge unternahm, die mir normalerweise gut taten, brach immer öfters mein ganzes System zusammen und die Symptome kehrten mit voller Wucht zurück. Es fiel mir sehr schwer, meinen Körper richtig einzuschätzen. Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, in welchem ich eine relativ kurze Langlauftour im Engadin frühzeitig abbrechen musste. Neben den starken Symptomen die daraufhin folgten hatte ich dabei auch einen grossen emotionalen Schmerz. Mir wurden nach und nach so ziemlich alle meine liebsten Tätigkeiten weggenommen. Bald waren schon ein Gemeinschaftsspiel oder ein Saunabesuch zu viel. Die Krankheit hatte mich im Griff und keines meiner altbewährten Mittel schienen auch nur ansatzweise zu helfen. Das Einzige, worüber sich die Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt einig war, war dass man «Crashes» - bzw. Rückfälle – vermeiden sollte, um zu verhindern, dass die Symptome chronisch wurden.

 

Die Wochen verstrichen. Ich vermied Stress und reduzierte jegliche körperliche Belastung, aber trotzdem verschlechterte sich mein Zustand ungebremst. Meine Hausärztin nahm mich sehr ernst und unterstützte mich, wo sie konnte. Doch auch sie war irgendwann mit ihrem Latein am Ende. Bald wurde ich so krank, dass ich kaum mehr laufen konnte und die verschriebenen Physio- und Ergotherapien nicht mehr wahrnehmen konnte. Als für die Therapien endlich Hausbesuche organisiert werden konnten, war fragwürdig, ob diese Therapien in meinem Zustand wirklich förderlich oder im Gegenteil eher schädlich waren. Eine grosse Hilflosigkeit breitete sich in mir und meinen Angehörigen aus. Zu den bestehenden Symptomen kamen immer wieder neue dazu: Nach körperlicher Anstrengung spürte ich ein Flattern und Kribbeln in den beanspruchten Muskeln, das sehr unangenehm werden konnte. Dazu kamen ein permanentes Hämmern im Kopf, eine verstärkte Unverträglichkeit von histaminreichen Nahrungsmitteln und länger anhaltende Schlafprobleme. Zusammen mit immer intensiveren Crashes, in denen sich grippeartige Zustände mit extremer Schwere und Erschöpfung (die sogenannte «Fatigue») abwechselten, stieg meine Angst. Ich begann zu erahnen, dass ich an einer schweren Krankheit litt und dass mein Heilungsweg wohl sehr lang und beschwerlich werden würde. Immer öfters zweifelte ich daran, dass ich überhaupt wieder gesund werden würde.

 

 

Ich gönne mir Ruhe und «Pacing»

 

Als ich Ende Februar nach einer schlaflosen, schlimmen Nacht notfallmässig zu meiner Hausärztin gefahren werden musste, fasste ich einen Entschluss: Ab sofort würde ich zum vorbildlichen Pacing-Profi werden. «Pacing» ist laut vielen Fachpersonen eine der wichtigsten Strategien im Umgang mit Long Covid. Es bedeutet, dass Patient*innen genaustens auf Signale ihres Körpers achten und so immer unter der Belastungsgrenze bleiben, um einen erneuten Crash zu vermeiden. Das Ziel ist, so ganz langsam die Belastungsgrenze nach oben zu verschieben. Höchst motiviert nahm ich mir vor, meinem Körper so viel Zeit zur Erholung zu geben wie nötig und jeglicher Versuchung zu widerstehen, an «guten» Tagen über meine Limiten zu gehen, so tief diese auch liegen mögen. Ich wollte Crashes um jeden Preis vermeiden.

 

Ich verbrachte die Tage hauptsächlich im verdunkelten Zimmer mit Liegen, Musik und Hörspielen (Bildschirme und helles Licht führten mit der Zeit auch zu einer Überreizung) und ganz viel Meditieren mit dem Mantra: Ich gönne mir Ruhe. Mit dem Meditieren, sowie einer Craniosacral-Therapie hatte ich schon länger angefangen, da eine Bekannte der Familie hauptsächlich dadurch von Long Covid genesen sei. Das von der Hausärztin verschriebene Trimipramin begann auch meinen Schlaf etwas zu normalisieren. Zudem überwachte ich mit meiner neuen Smartwatch minutiös meine Herzfrequenz und versuchte herauszufinden, welche Aktivitäten meinen Körper belasteten. Ich begann das Treppensteigen zu vermeiden und achtete darauf, mich nur noch langsam zu bewegen. Meine Welt schrumpfte immer weiter, doch falls es nötig war, um wieder gesund zu werden, war ich mehr als bereit, alles dafür zu tun. All dies war nur möglich dank der riesigen Unterstützung meiner Partnerin und meiner pensionierten Eltern, die mich bekochten, pflegten, und so ziemlich alles für mich erledigten.

 

Doch scheinbar war auch das beste Pacing der Welt nicht genug. Das Auf und Ab, die Fatigue, die Crashes, die vielen Symptome liessen sich nicht stoppen. Irgendwann war schon das Duschen im Stehen zu viel, und auch ein emotionales Gespräch mit meiner Lebenspartnerin löste einen typisch zeitversetzten Zusammenbruch meines Systems aus. In die langen Tage des Liegens und Meditierens schlichen sich nach und nach Panikattacken ein. Mein Körper fühlte sich so unglaublich fragil an, ich konnte ihm nicht mehr vertrauen. Die Zuversicht auf eine baldige Genesung, die mich angetrieben hatte, bröckelte zusehends. Meine Partnerin, meine Eltern und meine Schwester, die einzigen wirklichen Bezugspersonen zu dieser Zeit in meiner engen Welt, begannen auch an der grossen Belastung und Unsicherheit zu verzweifeln. So konnte es nicht weitergehen.

 


Die Zeit in der Long Covid Reha-Klinik

 

Deshalb beschloss ich zusammen mit meinen Angehörigen, mich in eine auf Long Covid spezialisierten Reha-Klinik einweisen zu lassen. Dies, obwohl die Hausärztin empfohlen hatte, damit noch einige Wochen zu warten, bis ich hoffentlich wieder etwas fitter wäre für das Reha-Programm. Wie absurd! Ich sollte zuhause auf Kosten meiner Angehörigen auf das Gesundwerden warten, weil ich offenbar zu krank war, um in eine Klinik aufgenommen zu werden. Das habe ich bis heute nicht richtig verdaut.

Nach der beschwerlichen Reise schöpfte ich in der Klinik sogleich neue Hoffnung. Ich fühlte mich verstanden vom medizinischen Personal, das schon hunderte Patientinnen und Patienten mit ähnlichen Symptomen betreut hatte. Dank des Austausches mit anderen Long Covid-Betroffenen fühlte ich mich nicht mehr ganz allein mit meinem Leiden. Mithilfe eines Rollstuhls, den Aufzügen und sehr freundlicher Betreuung war ich innerhalb der Klinik ziemlich mobil. Die phänomenale Aussicht auf die nahegelegenen, geliebten Berge tat mir unglaublich gut.

 

Trotzdem breitete sich eine gewisse Resignation in mir aus. Viele der Long Covid-Betroffenen in der Klinik litten schon über mehrere Jahre an der Krankheit, ohne nachhaltige Verbesserung ihres Zustands. Ich war einer der schlimmsten Fälle in der Klinik. Dementsprechend verdüsterten sich meine Heilungsaussichten - wie mir auch von Seiten der Ärzteschaft erklärt wurde. Die aktualisierte Diagnose, die ich in der Klinik erhielt, lautete: «Long Covid im Sinne von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom)». Eine komplette Heilung von dieser Krankheit sei nur in sehr seltenen Fällen möglich. In einer ersten Phase sollte ich deshalb vor allem lernen, mit so einem stark beeinträchtigten Körper umzugehen. Diese Diagnose und die damit verbundenen Aussichten für mein Leben, konnte ich trotz der Unterstützung der klinikeigenen Psychologin nur schwer akzeptieren.

 

Hinzu kam, dass sich mein Zustand auch in der Klinik nicht stabilisierte. Obwohl ich unglaublich motiviert war, schien ich nicht wirklich in das Aktivierungs-Programm der Klinik zu passen. Schon bald führte ein «Mobilitätstraining» in Form von Gehversuchen mithilfe eines Rollators zu einem erneuten Crash, der mich für 24 Stunden in ein kaum auszuhaltendes Bad an Schmerzen und Empfindungen stürzte. Es glich einer Folter. Ich hatte keine Ahnung wie lange die Phase dauern würde und grosse Angst, die Schmerzen durch zusätzliche Belastungen zusätzlich zu verschlimmern. So konnte ich unmöglich an den Reha-Programmpunkten teilnehmen. Das führte dazu, dass die Oberärztin schon an meinem ersten Zwischengespräch ernsthafte Bedenken über meinem weiteren Aufenthalt in der Klinik äusserte. Sie wollte mich nach Hause schicken, da sie befürchtete, dass ich für das Programm der Reha noch zu schwach war und sie befürchtete, dass sich mein Gesundheitszustand wegen der Überbelastung weiter verschlechtern würde. Ich war verzweifelt! Meine Angehörigen waren gerade dabei, sich von den grossen Strapazen der letzten Monate zu erholen und ein erneuter Aufenthalt in einer anderen Klinik mit einem anderen Reha-Programm war mit einer langen Wartezeit von mehreren Wochen und Monaten verbunden. Diese zusätzliche Unsicherheit belastete mich stark. Es gab Momente, da war ich so hoffnungslos und verzweifelt, dass ich daran dachte, so nicht mehr lange weiterleben zu wollen. 

 


Ein Artikel öffnet das Tor zu einer neuen Welt

 

Meine Partnerin stiess auf einen Artikel im «The Guardian» von Prof. Paul Garner, ein Epidemiologe und Professor für Forschung zu Infektionskrankheiten. Der Artikel hiess: «If you have long Covid, as I did, don’t give up hope. Recovery is possible» (übersetzt: «Falls Du Long Covid hast, wie auch ich es hatte, verliere die Hoffnung nicht. Eine Genesung ist möglich»). Hier teilt Paul Garner seine Geschichte: Er hat sich durch eine neue Sicht auf die Krankheit, sowie die Erfahrungen von Menschen, die von ME/CFS genesen sind, wieder vollständig von seiner Long Covid Krankheit erholt. Paul Garner beschreibt, dass die Symptome, die Long Covid zugeschrieben werden, höchst wahrscheinlich neuroplastischer Natur sind und nicht auf ein strukturelles Versagen im Körper zurückzuführen sind. Das bedeutet, dass die Ursache der Symptome und wiederkehrenden Crashes im Gehirn liegen. Durch ungünstige Vernetzungen der Neuronen, werden fälschlicherweise die Alarmglocken des Körpers aktiviert, ohne dass gravierende körperliche Schäden existieren. Die unbestreitbare längerfristige Chronifizierung wird durch den Lernprozess im Hirn erklärt: Bestimmte neuronale Schaltkreise werden immer schneller aktiviert und gewisse Reaktionen des autonomen Nervensystems werden mit der Zeit verfestigt. Der entscheidende Unterschied zu der gängigen Vorstellung, dass Long Covid mit einem strukturellen Versagens im Körper zusammenhängt, ist, dass eine solche Chronifizierung des Krankheitszustands aufgrund der Neuroplastizität umkehrbar ist. Doch konnte das wirklich stimmen? In der dunkeln Höhle meines Klink-Zimmers spürte ich einen kleinen Funken Hoffnung.

 

Als meine Partnerin auf diesen Artikel gestossen war, war ich selbst nicht in der Lage mehr als zwei Sätze am Stück zu lesen. Selbst längere Sprachnachrichten lösten bei mir sehr schnell erste Anzeichen von Symptomen aus. Ich hatte also keinen direkten Zugang zu diesem Wissen. Dank meiner Partnerin und meiner Schwester, die sich die Zeit nahmen, den Artikel und weitere Quellen zusammenzufassen und mir die wichtigsten Stellen vorzulesen, erhielt ich nach und nach Zugang zu dieser völlig neuen Perspektive auf Long Covid, die mich sofort ansprach. Erstens waren da so viele Ähnlichkeiten zwischen meiner und Paul Garner’s Krankheitsgeschichte und zweitens basierte meine Long Covid Diagnose ja genau auf dem Befund, dass keinerlei strukturelle Schäden im Körper gefunden werden konnten. Über Monate hatte ich alles versucht, war immer wieder gescheitert und war mehr als bereit für einen komplett neuen Ansatz. Doch wie konnte ich sicher sein, dass die schlimmsten Schmerzen, die ich je erleben musste, tatsächlich neuroplastisch waren? Leider gibt es zurzeit nur sehr wenige Spezialistinnen und Spezialisten, die die Diagnose «chronische neuroplastischen Symptome» stellen. Die Erkenntnisse zu neuroplastischen Krankheiten steckt noch in den Kinderschuhen und die entsprechenden Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen haben sich noch nicht im Standard der medizinischen Lehre etabliert.

 

Wie auch auf dieser Website, existiert jedoch eine Liste von Eigenschaften, welche auf einen neuroplastischen Ursprung der Symptome hinweisen. Einige davon trafen auch auf mich zu:

  • Stress: Die Symptome traten erstmals in der stressigen Situation der Abschlussphase meiner Doktorarbeit auf.

  • Perfektionismus: Mein perfektionistischer Charakterzug ist anscheinend prädestiniert für die Entwicklung neuroplastischer Symptome.

  • Unterschiedlichste Symptome: Die schiere Anzahl an unterschiedlichsten Symptomen, die nach und nach auftraten, sind ein klares Anzeichen dafür, dass ein einzelnes physisches Versagen im Körper als Ursache ziemlich unwahrscheinlich ist.

  • Wandernde und sich verändernde Symptome: Ein weiteres besonderes klar erkennbares Merkmal ist die Inkonsistenz der Schmerzen und Empfindungen. Das heisst, neuroplastische Symptome können sich in vielen Fällen verdächtig verhalten: Sehr typisch ist, dass sich die Beschwerden immer zu einer gewissen Tageszeit oder in spezifischen Situationen auftreten oder verschwinden, oder dass die Symptome im Körper «umherwandern», sich ausbreiten und rätselhaft verändern. Als ich darauf achtete, merkte ich, wie gewisse Symptome wie das Hämmern im Kopf in der Tat sehr variabel waren und von der linken auf die rechte Seite wechseln konnten. Auch der Druck auf der Brust war nicht immer gleich und das Flattern in den Muskeln konnte sich auf den ganzen Körper ausbreiten.

 

Viele Anzeichen waren da, doch so ganz überzeugt war ich noch nicht. Ich brauchte einen konkreteren Beweis. Wenn es wirklich stimmte, dass meine Krankheit von «falsch verdrahteten» Netzwerken in meinem Gehirn ausgelöst wurde, dann müsste mein oberstes Ziel gar nicht die Vermeidung der Symptome sein. Denn es würde bedeuten, dass wiederholte Überbelastungen meinen Körper überhaupt nicht längerfristig schädigen. Anstatt mit Bettruhe, könnte ich also ohne Angst und ohne schlechtes Gewissen auch mal mit einer sanften aber bewussten Aktivierung auf die Symptome reagieren.  Laut Fachpersonen von neuroplastischen Krankheiten kann sich gerade dann eindeutig zeigen, dass sich die Beschwerden ganz anders verhalten als Symptome, die eine körperliche Ursache haben. Das war aber einfacher gesagt als getan. Es brauchte für mich grosse Überwindung, denn ich hatte ja unzählige Male schmerzlich erlebt, was passiert, wenn ich meinen Körper überforderte.

 

Als ich wieder einmal mit einer starken Fatigue im Bett lag und mein Körper mir Bettruhe befahl, nahm ich allen Mut zusammen und rappelte mich auf, um mit dem geplanten Programm weiterzufahren: Ich ging trotzdem Duschen.

Dabei widersetzte ich mich bewusst den Empfehlungen der Ärztin der Klinik. Es fühlte sich an wie ein Sprung ins Leere mit sehr ungewissem Ausgang. Entweder Paul Garner hatte recht oder ich machte gerade leichtsinnig meinen Körper weiter kaputt. Ich erinnere mich noch, wie sich das Duschen damals extrem gut angefühlt hat. Ich habe das warme Wasser auf meiner Haut genossen und freute mich auf das erfrischende Gefühl danach. Doch am allermeisten genoss ich die Freiheit, zu tun, was ich wollte, ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken. Und das Unerwartete ist tatsächlich eingetroffen: Ganz anders als sonst, verstärkten sich die Symptome danach nicht. Im Gegenteil flachte die grosse Schwere in meinen Muskeln nach dem Duschen sogar ab. Ich hatte meinen ersten Beweis gefunden!

 

Es war ein Startschuss zu einem Prozess, der mein Leben zum zweiten Mal in diesem Jahr grundlegend veränderte. Durch weitere Erfolgserlebnisse konnte ich nach und nach meine Angst vor den Symptomen ablegen und eine gewisse Freiheit zurückerlangen. Die Symptome bestimmten nicht mehr vollständig meinen Tagesablauf und über die Zeit erhielt ich ein gewisses Vertrauen in meinen Körper zurück. Ich war in dieser Anfangsphase aber noch unsicher, ob tatsächlich alle Symptome einen neuroplastischen Ursprung haben. Insbesondere bei den Muskelschmerzen, die weiterhin zuverlässig nach einer Belastung auftauchten, war ich misstrauisch. Alles sprach für eine körperliche Überlastung. Bis ich ein weiteres Schlüsselerlebnis hatte. In einer weiteren schlaflosen Nacht, machte ich mir Sorgen über das bevorstehende Klinik-Sportprogramm, denn Ich hatte Angst, dass dieses meinen Körper überfordern würde. Plötzlich tauchten die gleichen Muskelbeschwerden auf, die normalerweise immer nach einer körperlichen Belastung auftraten!

 

Danach war für mich klar, dass auch diese Symptome nicht durch die körperliche Bewegung, sondern durch die Fehlprogrammierung in meinem Gehirn ausgelöst wird (Konditionierung). Das ist - wie auch Paul Garner beschreibt – typisch für neuroplastische Symptome. Das Gehirn lernt, durch bestimmte Trigger ein Symptom auszulösen. In diesem Fall war der Trigger die körperliche Anstrengung und das Symptom die Muskelschmerzen. Es bestand jedoch keine körperliche Ursache. Für mich war das eine Wahnsinnserkenntnis: Das hiess, meine Krankheit war in der Tat vollkommen auf eine Fehlprogrammation meines Hirns zurückzuführen und ich konnte wieder gesund werden!

 

Es ist mir an dieser Stelle sehr wichtig, folgendes zu betonen: Chronische neuroplastische Symptome sind eine sehr schwerwiegende Krankheit. Es bedeutet auf keinen Fall, dass Long Covid Betroffene einfach ihre Angst vor den Symptomen und den Folgen einer Überbelastung verlieren können und sofort wieder aktiv werden sollten. Neuroplastische Symptome sind ernst und können starke Schmerzen und Beschwerden verursachen, die genauso real sind wie Schmerzen mit körperlichen Ursachen. Einmal erlernte und gefestigte neuronale Schaltkreise verschwinden nicht plötzlich, selbst wenn die Symptome inkonsistent sind und durch bewusste Handlungen teilweise beeinflusst werden können. Auch mit dem Wissen, dass mein Körper eigentlich gesund ist, reagierte mein Nervensystem weiterhin mit Symptomen und Crashes. Das Vertrauen darauf, dass mein Körper eigentlich gesund war, half mir das alles besser zu ertragen. Die krasse Überreaktion auf bestimmte Trigger verbesserte sich rasch. Dennoch konnte ich immer noch keine zwei Minuten im Stehen Zähne putzen oder längere Strecken laufen. Ernsthaft krank und eingeschränkt bleibt man trotz der Diagnose einer neuroplastischen Krankheit.

 

Die gute Nachricht ist jedoch, dass das Gehirn plastisch ist: Was es erlernt hat, kann es auch wieder umlernen. Durch bewusste Handlungen können wir Menschen die längerfristige Entwicklung des Gehirns beeinflussen. So können sich neue Verbindungen bilden. Es ist erwiesen, dass bewussten Haltungen und Aktivitäten einen nachhaltigen Einfluss auf unsere Hirnströme haben. Und genau wie wir unser ganzes Leben lang neue Fähigkeiten erlernen können, so können wir auch alte Muster verlernen. Mit etwas Zeit lassen sich deshalb durch Übungen und Verhaltensveränderungen auch tief eingegrabene Schmerz- und Symptombahnen komplett überschreiben.

 


Mein Weg zur Genesung: Verlernen mit Vertrauen, Freude und Gelassenheit

 

Warum und in welcher Form neuroplastische Schmerzen auftreten, ist sehr individuell. Und genauso vielfältig sind die Heilungswege. Über die letzten Jahre wurden jedoch praxiserprobte Therapien entwickelt, die neuroplastische Symptome behandeln. Für mich war es die sogenannte «Pain Reprocessing Therapy» («Schmerz-Neuverarbeitungs-Therapie»), kurz PRT, die mich in etwas mehr als zwei Monaten vom Rollstuhl wieder auf den Gipfel eines Berges brachte. In der Schweiz gibt es vermehrt ausgebildete Coaches, welche online oder vor Ort PRT anbieten. Persönlich habe ich diese Angebote nie in Anspruch genommen, denn auch ohne professionelle Begleitung erhält man Zugang zu dieser Therapie. Viele Informationen enthält das Buch «Wege aus dem Schmerz» von Alan Gordon, einem der Begründer der PRT und auch der Beschrieb auf dieser Website ist informativ. Besonders erwähnenswert ist auch die «Curable» App, welche die Informationen zu neuroplastischen Krankheiten, sowie verschiedene Schmerz-Neuverarbeitungs-Tools häppchenweise präsentiert. Als ich kaum lesen und nur begrenzt Audio-Aufnahmen hören konnte, ermöglichte mir die App einen einfachen Zugang zu diesem neuen, lebensverändernden Wissen.


Schritt eins: Vertrauen in meinen eigenen Körper

Die Basis fürs Gesundwerden war die neue Überzeugung, dass meine Symptome eine neuroplastische und keine körperliche Ursache haben. Ich vertraute darauf, dass mein Körper eigentlich gesund war. Am wichtigsten waren dabei zwei zentrale Überzeugungen:

  1. «Überbelastungen» und die damit verbundenen Symptomen führen in keinster Weise zu längerfristigen, unumkehrbaren körperlichen Schäden. Ich denke nicht, dass ich ohne diese Gewissheit die Symptoms-Neuverarbeitungs-Therapie erfolgreich hätte in Angriff nehmen können.

  2. Eine komplette und relativ rasche Heilung ist nicht nur im Bereich des Möglichen, sondern sogar sehr wahrscheinlich.


Die Genesungsgeschichten von anderen Patienten halfen mir, das Vertrauen in diese zwei massgeblichen Grundsätze zu stärken und aufrechtzuerhalten. Zum Glück teilen viele Menschen auf verschiedensten Plattformen, wie sie von (sehr schweren) Long-Covid oder ME/CFS Krankheiten genesen sind, indem sie die fehlerhaften Reaktionen des Nervensystems gezielt umprogrammiert haben. Long Covid und/oder ME/CFS spezifische Erfahrungsberichte finden sich zum Beispiel hier: Longcovidcured; Recoverynorway; Positivelycovid; Youtube-rebeccatolin.


Wenn ich starke Symptome hatte, habe ich mich oft, anstatt ins Bett zu verkriechen, an einen schönen Ort gesetzt und diese Geschichten gelesen. Oft führte das zu einer Milderung der Schmerzen. Noch viel wichtiger war aber die längerfristige Zuversicht und der Halt, den mir diese Genesungsgeschichten gaben. Denn eine Genesung von neuroplastischen Symptomen verläuft selten linear. Im Gegenteil, kurzzeitige Rückschritte sind normal. Das macht es aber schwierig, dauerhaft davon überzeugt zu sein, dass der Körper gesund und man selbst auf dem richtigen Weg ist. Die vielen Genesungsgeschichten gaben mir immer wieder Mut und das nötige fortwährende Vertrauen in den Prozess der Umprogrammierung. Ebenso hat mir dieser Podcast von Alan Gordon und Alon Ziv mit Therapie-Beispielen an Patientinnen und Patienten viel Zuversicht und Vertrauen geschenkt. Unter anderem erfuhr ich dadurch auch vom Phänomen des «Extinction Burst» (Auslöschungs-Ausbruch): Bevor ein antrainierter automatischer Prozess im Hirn verschwindet, ist es häufig so, dass letzte gesteigerte Ausbrüche auftreten. Eine plötzliche Verschlimmerung bestehender sowie auch neuer Symptome, kann also auch ein Zeichen sein, auf dem richtigen Weg zu sein.


Auf der Basis dieses Vertrauens begann mit Schritt zwei und drei mit der Neuprogrammierung:


Schritt zwei:         Durch bewusstes Handeln neue neurologische Bahnen bilden

Schritt drei:          Durch verschiedene Strategien den Alarmzustand des Systems beruhigen


 

Schritt zwei: Ein neuer Umgang mit meinen Symptomen

Der wesentlichste Teil meiner Therapie bestand aus der eigentlichen Neuverarbeitung der Krankheitssymptome. Ich veränderte meinen Umgang mit den Symptomen, um so unerwünschte synaptische Verbindungen zu schwächen und neue synaptische Verbindungen zu schaffen. Dazu nutzte ich verschiedene Tools:

  1. Symptome neu bewerten: Eines der wichtigsten Tools hierfür war für mich das «Somatic Tracking», ein neugieriges und angstbefreites Spüren und Betrachten der Empfindungen, die vorher als schlimme Symptome gewertet wurden. Basierend auf dem Vertrauen, dass die Signale meines Körpers nicht auf schlimme irreparable Schäden hinweisen, konnte ich damit den Symptomen auf eine ganz neue Weise begegnen und deren Bedeutung nachhaltig neu bewerten. Zum Beispiel fühlte sich das unliebsame Flattern und die allgemeine Unruhe, die ich oft im Körper spürte, plötzlich eher an wie ein angenehmes Blubbern im Whirlpool, was ich sogar geniessen konnte. Nicht alle Symptome, insbesondere die schmerzhaften, liessen eine solche positive Umdeutung zu. Doch nach und nach gelang es mir die Angst vor den Symptomen zu verlieren. Das bedeutete nicht, dass die Symptome nicht mehr auftraten. Doch es liess zu, dass ich mit der Zeit ganz anders auf die Symptome reagieren konnte. Anstatt mich wieder ins Bett zu verkriechen und leidend auf ein Abflachen der Symptome zu warten, liess ich mich nicht mehr von meinen Plänen abhalten, Freude in mein Leben zu holen. 

  2. Neuer Umgang mit der gegebenen Situation: Am Anfang, als ich kaum mobil und die Reizintoleranz noch sehr hoch war, verbrachte ich die langen Stunden des Liegens oft mit Visualisierungen. Ich stellte mir schöne vergangene Ereignisse vor oder träumte in Zukunftsfantasien davon, was ich alles tun würde, sobald ich wieder gesund bin. Ebenso holte ich durch kleine Achtsamkeitsübungen, wie dem bewussten Geniessen der Sonne, des Essens, des warmen Wassers, oder angenehmen Begegnungen in der Klinik, kleine Freuden zurück in mein eingeschränktes Leben. Die kleine Euphorie, die das Entdecken des neuroplastischen Ansatzes auslöste und die einhergehende Hoffnung einen möglichen Ausweg gefunden zu haben, führten bei mir dazu, dass sich zumindest die Reizintoleranz relativ rasch verbesserte. Und ich feierte jede neu gewonnene Freiheit. Ich begann mir zu überlegen, was ich gerne mache und was mir Freude bereitet. Die Dinge, die ich wieder tun konnte, genoss ich in vollen Zügen. Ich entdeckte, dass es mir besonders Spass machte, neue Dinge zu lernen. Ich brachte mir zum Beispiel das Erkennen der Vogelstimmen und Sternbildern bei oder probierte neue Tricks,  die in meiner Safe-Zone der körperlichen Anstrengung waren. Ich übte Jonglieren und Kendama oder versuchte mich im Balancieren auf einer Pilates Rolle, wo ich mich kurz wie beim Surfen fühlen konnte. Ich bin überzeugt, dass das Aneignen solcher neuen Fertigkeiten das Umprogrammieren des Nervensystems aktiv gefördert hat. Mit der Zeit konnte ich auch die Besuche meines Umfeldes und körperliche Nähe wieder ohne Furcht vor den unangenehmen Folgen der Überreizung geniessen, sodass ich auch dadurch wieder aktiv Freude in mein Leben holen konnte. Doch, wie gesagt, war dieser Aufwärtstrend keineswegs linear und es gab gewisse Trigger, allem voran minimale körperliche Anstrengungen und ganz besonders das Gehen von mehr als ein paar Dutzend Metern, die sehr hartnäckig und zuverlässig immer noch sehr schwere Symptome hervorriefen.

  3. Neuer Umgang mit den Triggern: Dazu trickste ich die Trigger aus, indem ich die Tätigkeiten anders oder in einem anderen Setting ausführte. Anstatt zu versuchen meine Gehdistanz zu erweitern - was immer wieder zu einem Crash führte – tanzte ich stattdessen immer länger zu guter Musik in der Sicherheit meines Zimmers. Genauso habe ich mit dem Takt von Musik geduscht oder erste Kraft- und Ausdauerübungen in Spiele eingebaut die mir Spass machten. Allgemein habe ich darauf geachtet, den Triggern nicht mit einer vorsichtigen und ängstlichen Haltung zu begegnen, sondern bewusst mit einer legeren und eigentlich unwesentlichen Attitüde. Das heisst, ich habe meine Bewegungen nicht mehr besonders energiesparend langsam ausgeführt, sondern so normal wie möglich. Wenn möglich sogar mit einer Portion extra freudigen Armschwingens oder selbstsicheren Kopfhebens und habe nicht zuletzt versucht die furchteinflössenden Treppen in einem gewöhnlichen Tempo zu erklimmen. So konnte ich vermehrt positive Erfahrungen sammeln. Ich wurde darin bestärkt, dass kein physischer Zusammenhang zwischen den Triggern und den Symptomen besteht und ich «Überbelastungen» nicht zwingend im Nachhinein werde «büssen» müssen. Über die Zeit linderten diese positiven Erfahrungen die Angst und den Stress vor den Symptomen, was mir wiederum vermehrt symptomfreie Aktivitäten erlaubte. Als Gegenpol zu der Stress-Angst-Symptoms-Spirale, welche mich so tief in die körperliche Invalidität hinuntergezogen hatte, entstand ein positiver Kreislauf, der mir langsam mehr Bewegungsfreiheit ermöglichte. Zusätzlich hat mir auch eine tiefere Auseinandersetzung mit meinen Emotionen geholfen. Ich tendierte schon immer dazu Emotionen mehrheitlich zu unterdrücken und nicht zuzulassen. Klassisch «negative» Emotionen wie Wut, Angst und Trauer und den damit einhergehenden Kontrollverlust empfand ich als unerwünscht. Durch psychologische Gespräche, Übungen und Journaling konnte ich allmählich eine gesündere Haltung entwickeln, was sich ebenfalls positiv auf die Symptome auswirkte.


Diese drei Strategien haben mir geholfen, meine ungünstigen synaptischen Verbindungen neu zu programmieren. Es ist mir jedoch wichtig, zu betonen, dass diese Strategien den offiziellen - auch in der Klinik gelehrten -Therapiestrategien direkt widersprechen. Anstatt mithilfe von Pacing und genauer Beobachtung zu verhindern, dass Symptome auftreten, half mir vielmehr eine aktive Umdeutung der Symptome (1.), sodass diese Ihre Bedrohlichkeit verloren, was eine Abkehr von einer kontinuierlichen Symptomüberwachung sowie einem aufrichtigen Fokus auf allgemeine Freuden im Leben ermöglichte (2.).

Es ging also nicht mehr primär darum, Symptome zu vermeiden, sondern den Umgang mit ihnen und der gegebenen Situation zu verändern. Und genauso widersetzte ich mich den empfohlenen Energiemanagement-Strategien, und achtete bewusst nicht auf eine «optimale» Tageseinteilung der Energie oder besonders energiesparende Bewegungen und verwarf die Idee, dass mein «Energie-Tank» schon nach geringer Belastung plötzlich leer sein sollte. Im Gegenteil führte ich immer mehr Tätigkeiten auf natürliche Weise und ohne übergeordneten Plan aus (3.). Ich wusste, mein Körper ist gesund, und konnte dies durch eine veränderte Wahrnehmung Schritt für Schritt auch meinem autonomen Nervensystem mitteilen.


Schritt drei: Stress im Alltag reduzieren.

Es war für meine Genesung zentral, dass mein Körper den allgemeinen Notfallmodus ausschalten konnte. Dafür reduzierte ich den Stresslevel im Alltag. Ich schaffte mir ein sicheres, beständiges Umfeld, um Druck und Zukunftsängste zu reduzieren und lernte verschiedene Beruhigungstechniken. Dazu gehörten unterschiedlichste Meditationen, Autogenes Training, Atemübungen, progressive Muskelentspannung und das Aufsuchen eines «inneren sicheren Orts», welche mir von meiner Klinik-Psychologin mitgegeben wurden.

Ebenfalls dazu gehört eine gesunde Portion an «self-care» (Selbstpflege). Damit sind weniger Wellnessausflüge gemeint, sondern vielmehr ein nicht-zu-hart-mit-sich-ins-Gericht-Gehen. Es geht vielmehr um eine Akzeptanz und ein Verständnis für die eigenen Schwächen und Ängste. Alan Gordon, wie gesagt einer der Begründer der PRT, beschreibt dies eingängig als ein Gefühl, das man einem hilflosen Kind entgegenbringen würde.

Am allerwichtigsten war in dieser Hinsicht jedoch die Entwicklung einer ehrlichen Grundhaltung der Gelassenheit.


Wie auch Alan Gordon bekräftigt, kann die aktive Umprogrammierung nicht erzwungen werden. Eine verbissene, verkrampfte Haltung beim Verfolgen der Neuverarbeitung befeuert vielmehr den Stress-Ursprung der Symptome, was genau das Gegenteil bewirken kann. Dies habe ich selbst in Zusammenhang mit dem Gehen erlebt. Als ich schon erste Fortschritte gemacht hatte, wollte ich unbedingt so schnell wie möglich wieder mobil werden. Es war mein oberstes Ziel, mich von der immensen Einschränkung zu befreien, nicht frei herumlaufen zu können. Und wie so vieles im Leben, packte ich dieses Ziel mit einer grossen Portion Vehemenz und Willenskraft an. Doch ich musste feststellen, dass diese Strategie, die mich sonst schon zu vielen Erfolgen geführt hat, im Rahmen dieser Krankheit zum wiederholten Mal absolut nicht funktionierte. Anstatt dem erhofften Weiterschwimmen auf der Erfolgswelle, ging ich wieder in den Tiefen der Symptome unter, egal wie fest und entschlossen ich dagegen strampelte. Der kühne Gehversuch bis zum Essenssaal der Klinik endete erneut in einer schlaflosen Nacht voller Schmerzen und Symptome. Auch weitere erzwungene Fortschrittsbestrebungen in der Gehdistanz hatten unangenehme Folgen. Erst als ich beschlossen hatte, mir für einige Tage eine Pause zu gönnen und den Druck einer schnellen Verbesserung abstreifen konnte, liessen die Rückschritte nach. In dem ich daraufhin wie oben beschrieben auf spielerische Weise - unter anderem durch das Tanzen - in die Bewegung zurückkehrte und eine innere Haltung der Leichtigkeit in Bezug auf weitere Fortschritte pflegen konnte, gelang es mir über Wochen den Knopf der Verkrampfung zu lösen.


In diesem Sinne bin ich der Überzeugung, dass es nicht so sehr darauf ankommt welche Beruhigungstechniken man anwendet, oder wie genau eine Stressreduktion im Alltag aussieht. Entscheidend ist, dass diese zu einer Grundstimmung der Gelassenheit beitragen, die dazu führt, dass sich das Nervensystem entspannen kann und nicht mehr extrem auf Trigger reagiert. Dies war für mich jedoch eine grosse Herausforderung! Dass der Genesungserfolg nicht vom Aufwand und der darunter liegenden Entschlossenheit abhängt, sondern vielmehr so natürlich wie möglich und am besten ohne grosse Anstrengung eingeleitet werden sollte, fand ich etwas vom schwierigsten auf dem Weg zurück ins Leben.



Meine kühnsten Träume werden wahr

Doch letztlich habe ich meinen Weg gefunden. Das neue Verständnis von chronischen Schmerzen und die Therapie-Methode der Schmerz Neuverarbeitung hat bei mir gewirkt. Im Nachhinein betrachtet sogar ziemlich effektiv. In der letzten Woche meines zweimonatigen Klinik Aufenthaltes gelang mir als kleiner Durchbruch ein zweiminütiges Zähneputzen im Stehen und ich konnte auch wieder einige Treppenstufen steigen. Anschliessend spürte ich förmlich wie sich ein Knopf löste und es ging in grossen Schritten wieder bergauf, wortwörtlich. Einen Monat danach, Mitte Juni, erklomm ich schon wieder den ersten Berg, den Ochsen in den Freiburger Voralpen. Im September 2024 startete meine aktuelle 100% Stelle als Postdoktorand an der Uni Bern und dem Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen. Seither bezeichne ich mich als vollkommen genesen, ohne jegliche bleibenden Einschränkungen. Im Gegensatz zu den ärztlichen Prognosen einer jahrelangen Krankheit mit unsicherem Genesungserfolg entspricht dieser Verlauf meinen kühnsten Träumen, die ich bei Eintritt in die Klinik Gais gehabt hatte.

Nur bin ich definitiv nicht primär durch die Therapien der Klinik und deren Sicht auf die Krankheit gesund geworden. Vielmehr musste ich mich von der Behauptung distanzieren, dass chronische Fatigue nur «selten geheilt» werden könne. Ich musste mich aktiv vom propagierten Symptomüberwachungs-Pacing und von Teilen der Energiemanagement-Schulung abwenden. Bestimmt profitierte ich von den geleiteten Bewegungsaktivierungen und Entspannungsübungen, der psychologischen Begleitung, der umliegenden Natur und auch der Fürsorge des Personals in der Klinik. Doch dies nur längerfristig, weil ich glücklicherweise auf ein grundlegend neues Verständnis der Krankheit gestossen bin.


Bevor ich auf den Ansatz der neuroplastischen Symptome gestossen bin, haben bei mir weder klassische Psychotherapie, Craniosacral Therapie, Bewegungstherapien, eine umfassende Stress- und Belastungsreduktion, noch ein wochenlanges Meditieren nachhaltig geholfen. Zur Genesung half mir letztlich nur ein fundamentales Umdenken was den Ursprung der Symptome betrifft, sowie die dazugehörigen bewussten Handlungen, welche spezifisch auf ein Verlernen neuroplastischer Symptome zielen. Das Wissen, dass die Symptome neuroplastischer Natur waren und mein Körper nicht unumkehrbar geschädigt war, war der alles entscheidende Unterschied für einen nachhaltigen Erfolg der Therapien.



Was ich mitnehme

Long Covid hat mein Leben verändert - letztlich im positiven Sinne. Diese Erfahrung war zweifelsfrei meine bisher schwierigste, schmerzvollste und angsterfüllteste. Ich gelangte an die Grenzen meiner Existenz und musste viele Momente der puren Verzweiflung und Perspektivlosigkeit aushalten. Doch nicht die Krankheit, sondern der Weg hinaus wird mein Leben für ewig prägen. Ich durfte einen zentralen Aspekt der Funktion des menschlichen Körpers, nämlich die Interaktion zwischen äusseren Signalen und der gelebten Realität, komplett neu denken lernen und eine völlig neue Handlungsmacht über meine gelebte Wirklichkeit entdecken.

Ich habe erfahren, dass ich eigentlich schon viel länger an chronischen neuroplastischen Schmerzen leide, denen ich jetzt aber nicht mehr hilflos ausgeliefert bin. Zum Beispiel konnte ich die chronischen Nackenschmerzen loswerden, die ich seit meinem Masterstudium mit mir mitschleppe und für welche über Jahre hinweg unzählige Physiotherapeutinnen und Osteopathen kein Rezept für eine längerfristige Linderung finden konnten.

Ich bin auch drauf und dran die Symptome meiner Diagnose «Restless Legs-Syndrom» komplett zu verlernen. In einem Grossteil der medizinischen Fachwelt wird das Restless Legs-Syndrom immer noch als eine neurologische Erkrankung mit potentiell «enormer körperlicher und seelischer Belastung» angesehen, die sich im Allgemeinen mit zunehmendem Alter verschlimmert. Doch auch diese vermeintlich «unheilbare» Krankheit ist mit hoher Wahrscheinlichkeit neuroplastischen Symptomen zuzuordnen. Ebenso bin ich noch jedes Mal fasziniert, wenn meine Kopfschmerzen, die mir früher immer wieder mal einen Abend vermiest hatten, sich durch bewusste Handlungen meinerseits beeinflussen lassen und sich oft einfach wieder verflüchtigen.

 

Der Weg der Symptom-Neuverarbeitung war keinesfalls einfach. Er verlangt eine Offenheit für neue, kontraintuitive Ideen, eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen tiefsten Ängsten, Durchhaltevermögen, einen grossen Willen, Zeit und Aufwand. Es wäre so viel leichter ein ME/CFS Medikament zu schlucken oder auf die Long-Covid Spritze zu hoffen. Doch höchst wahrscheinlich wird in näherer Zukunft ein solches Wundermittel leider nicht existieren.

Ich bin mir bewusst, dass ich im Rahmen der Krankheit eine sehr privilegierte Position innehatte. Ich habe keine Kinder, die auf mich angewiesen sind, ich leide unter keinen anderen Krankheiten und Gebrechen und besitze ausreichend Sprachkenntnisse, um die Informationen zu neuroplastischen Krankheiten und PRT zu verstehen, da die momentan vor allem auf Englisch zu finden sind. Und vor allem durfte ich auf ein unglaubliches Umfeld von Familie, Freunden, Freundinnen und Bekannten zählen, die mich aufgefangen, getragen, und ebenso gelitten haben. All diesen Menschen, einschliesslich den zahlreichen professionellen medizinischen Betreuern und Betreuerinnen, die sich um mich gekümmert haben, möchte ich an dieser Stelle herzlichst danken. Ganz besonders hatten meine Eltern die Zeit mich wochenlang zu pflegen, mich mit dem Auto herumzufahren und auf Ausflüge mitzunehmen. Sie organisierten und erledigten alles Mögliche für mich und konnten mich auch finanziell unterstützen. Auch ohne die riesige Unterstützung meiner Lebenspartnerin, die mich liebevoll umsorgt, mein Leben gemanagt, den Haushalt zu 100% übernommen, mich immer wieder aufgestellt, den neuroplastischen Ansatz gefunden und mir nahegelegt und mir den wichtigsten Grund zum Weiterkämpfen geschenkt hat, hätte ich es schlicht nicht geschafft.

 

Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt, dass jede Person, egal wie schlimm und wie lange sie schon an den neuroplastischen Symptomen von Long-Covid und ME/CFS leidet, mit der nötigen Unterstützung die Chance hat, diese schreckliche Krankheit zu verlernen, hinter sich zu lassen und in ein Leben der Freiheit und Freude zurückzukehren. Ich hoffe, dass meine Geschichte hierfür einen kleinen Beitrag an Zuversicht und neuer Perspektive spendet, genau wie es für mich mit den Genesungsgeschichten anderer Menschen geschehen ist.

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