Serena
Chronisches Schmerzsyndrom
Ich habe das chronische Schmerzsyndrom. Wie das entstanden ist und wie ich gelernt habe, damit umzugehen, erfährst du hier ...
WELTWEIT
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Die Blätter in den Bäumen rauschen. Ich kann sie sogar durch das Gespräch des Podcasts hören. Der Himmel wird langsam dunkler und die ersten Sterne sind zu sehen. Vorsichtig rücke ich meinen Kopf zurecht und geniesse den Sommerabend. Podcasts oder Hörbücher hören und mich mit jemandem unterhalten – das ist mehr oder weniger das, was ich noch tun kann. Im Mai 2020 lässt die Coronakrise die Welt stillstehen. Meine Welt steht nicht nur schon länger still, sie ist auch ganz langsam immer kleiner geworden.
Wie alles beginnt..
Zwei Jahr zuvor läuft eigentlich alles super: Ich bin Primarlehrerin, habe Spass an meinem Job und mache nebenher eine Weiterbildung, die später sogar zu einer Teilzeitstelle in einem Verlag führt. Und doch, diese beiden letzten Jahre in der Schule brauchen sehr viel Energie. Zu den üblichen Aufgaben als Klassenlehrperson kommt der Einstieg in einen neuen Beruf, eine krankgeschriebene Pensenpartnerin und auch in meinem Privatleben gibt es einige Themen, die viel Aufmerksamkeit fordern. Als ich die Chance bekomme im Verlag aufzustocken, gebe ich die Stelle in der Schule schwerenherzens auf (damals waren Teilzeitpensen nicht möglich), denn ich möchte weiter in die Welt der Lehrmittel eintauchen. Ich sehe es als Chance, denn mit der Teilzeitstelle kann ich mich über Wasser halten und gleichzeitig eigene Projekte verfolgen - die gehen mir nie aus 😉.
Nach den Sommerferien spüre ich überraschenderweise, wie mir ein grosses Gewicht von den Schultern fällt. Ich habe mich so daran gewöhnt, dass mir gar nicht bewusst war, wie sehr mich die Verantwortung in der Schule belastete. Als ich dann erste Wanderprojekte umsetzen will, bemerke ich schon auf der ersten Wanderung, dass etwas nicht stimmt. Auf dem Weg ins Tal spüre ich plötzlich einen unangenehmen Schmerz unter meinen Fussinnenknöcheln. Ich lasse mich nicht irritieren, wandere weiter und kurz darauf steht auch schon die nächste Tour auf dem Programm.
In den Bergen unterwegs zu sein, erfüllt mich mit einem tiefen Glücksgefühl. Deshalb ignoriere ich wohl auch die immer stärker werdenden Schmerzen, bis sie irgendwann so heftig sind, dass ich sie nicht mehr ausblenden kann. Als ich an einem Sonntagmorgen zu meiner üblichen Joggingrunde starten will, geht bereits nach hundert Metern gar nichts mehr. Der unangenehme Schmerz hat sich zu einem Zerren, Brennen und einem unerträglichen Stechen verwandelt. Es ist meine letzte Joggingrunde für die nächsten beiden Jahre. Zum Glück wusste ich das damals noch nicht…
Plantarfaszitis?
Als es meinen Füssen nach drei Wochen nicht besser geht und auch starke Rückenschmerzen hinzugekommen sind, suche ich Rat bei meinem Hausarzt. Er verschreibt mir Physio wegen einer Plantarfasziitis und für die nächsten acht Wochen malträtiert eine Physiotherapeutin meine Fersen mit schmerzhaften Stosswellen, die leider keinen Effekt zeigen. Nach einem Physiowechsel, orthopädischen Schuheinlagen und einem MRI für den Rücken, das leider (oder auch zum Glück) ohne Befund bleibt, ist die Situation unverändert, wenn nicht sogar immer schlimmer.
Ich kann kaum noch Gehen, fahre mit dem Velo ganz langsam zum Einkaufen oder an den Bahnhof, da eine stärkere Belastung sofort stechende Schmerzen auslöst. Ich gehe langsamer als jede neunzigjährige Oma und jeder Schritt ist mit beinahe unerträglichen Schmerzen verbunden. Beim Warten auf den Zug kann ich keine zehn Sekunden stehen. Ich muss mich sofort auf eine Bank setzen (dabei fällt mir auch auf, wie wenig Sitzgelegenheiten es an Haltestellen gibt!). Es fühlt sich an, als ob ich über spitze Nägel gehe. Hinzu kommt ein brennendes Gefühl an den Fusssohlen und ein einschiessender Schmerz in der Ferse, der durch den ganzen Körper zu gehen scheint.
Schmerzmittel sind meine neuen Smarties
Ich schlafe sehr schlecht. Die Schmerzen halten mich wach. Meine Füsse lagere ich auf einem Schaumstoffkissen, mit den Fersen darüber hinaushängend, da jeder noch so sanfte Kontakt mit Matratze oder Decke einschiessende Nervenschmerzen mit sich bringt. Mein Rücken ist so verkrampft, dass ich mich kaum rühren kann und flammende Schmerzen im Kreuz, im Nacken und in den Schultern habe. Immer öfters strahlen die Rückenschmerzen auch in den Kopf aus und melden sich als stechende Kopfschmerzen. Mein Rücken bräuchte Bewegung, aber meine Füsse lassen das nicht zu.
Ich nehme drei Mal am Tag Schmerzmittel, die ein wenig gegen die Rückenschmerzen helfen, den Schmerz in den Füssen jedoch nicht lindern können und gehe zwei Mal pro Woche in die Physio.
Meine Kraftquelle
Damals ist das Zeichnen für mich unglaublich wichtig, um wenigstens etwas Positives aus dieser Zeit zu machen. Ich kann mich weiterentwickeln und meine Gefühle verarbeiten. Ausserdem arbeite ich neu in einem weiteren Verlag und die Arbeit dort macht mir grossen Spass.
Corona und eine Ärzte-Odyssee
Und dann kommt Corona… Ich kann nicht mehr in die Physio und arbeite im Homeoffice. Die Schmerzen werden innerhalb von zwei Wochen unerträglich. Auf der Schmerzskala schwanke ich zwischen sieben, acht und neun hin und her. Ich bin verzweifelt. Seit über einem halben Jahr kann mir niemand helfen.
Was dann folgt, ist eine Odyssee, die aus Warten und Hoffen auf den nächsten Termin und einigen Enttäuschungen bestand. Wer keine Lust auf alle Details hat, kann die nächsten Abschnitte einfach überspringen…
Nach einem weiteren Besuch beim Hausarzt, der mich immer ernst nahm und mir zu helfen versuchte (Danke Herr Meier 😊!) lande ich beim Fussspezialisten. Der schickt mich, nach einem unauffälligen Röntgenbild und einem ergebnislosen MRI, zum Neurologen. Dank einer Sondergenehmigung darf ich wieder in die Physio, was zumindest etwas gegen die Rückenschmerzen hilft. Leider beginnen zu dieser Zeit auch die Schmerzen in meinen Händen und Unterarmen. Beim Skizzieren spüre ich plötzlich einen stechenden Schmerz im rechten Handballen und muss aufhören.
Noch mehr Schmerz
Inzwischen weiss ich, was passiert, wenn man Schmerzen ignoriert und reagiere sofort. Schonen, dicke Schichten Voltaren und Handgelenke stabilisieren, sollen verhindern, dass sich eine Sehnenscheidenentzündung bildet. Doch alles umsonst. Nach zwei Wochen habe ich an beiden Unterarmen und in beiden Händen stechende, ziehende und brennende Schmerzen. Ich kann nicht mehr zeichnen, am Computer zu arbeiten ist fast unmöglich. Ich muss mich 50% arbeitsunfähig schreiben lassen und nehme vor allem noch an Besprechungen teil.
Meine Welt schrumpft weiter. Ich gehe jeden Tag für zehn Minuten ganz langsam spazieren. Mehr geht nicht mehr. Ich schöpfe Kraft aus Gesprächen, höre hunderte von Podcasts und lerne so auch Koreanisch (zumindes ein wenig – 안녕하세요 😉). Alle meine anderen Hobbies gehen nicht mehr. Sogar das Umblättern von Seiten beim Lesen schmerzt zu sehr. Mein Alltag scheint nur noch aus Schmerz zu bestehen. Ich kann nicht mehr kochen oder putzen, Schuhe binden, Hosen anziehen, Zähne putzen, schlafen, Gabel und Messer halten … alles tut weh, selbst wenn ich einfach nur dasitze. Das Krasse dabei ist: man sieht mir von aussen nichts an!
Tarsaltunnel-Syndrom?
Der Neurologe vermutet schliesslich ein Tarsaltunnel - Syndrom in meinen Füssen, ist sich jedoch nicht zu hundert Prozent sicher. Ich bekomme einen Termin im Spital und habe innerhalb von drei Wochen zwei Infiltrationen in die Fussgelenke. Dabei versucht man die betroffenen Nerven mit gezielten Cortisonspritzen zu beruhigen. Leider bleibt auch das ohne Erfolg. Immerhin spüre ich während der Lokalanästhesie meine Füsse für einige Stunden nicht mehr und ich treffe einen super Arzt, der mich später an einen Schmerzspezialisten verweist … Zuerst gehe ich aber noch zu einem Rheumatologen, der ebenfalls sehr nett ist, der aber alle meine Symptome auf meine Überbeweglichkeit zurückführt. Das fühlt sich für mich irgendwie nicht richtig an. Denn die Überbeweglichkeit habe ich schon mein ganzes Leben, wieso soll sie ausgerechnet jetzt Schmerzen verursachen?
Keine Energie, eine tolle Physio und ein Schmerzmediziner
Der Rheumatologe verschreibt mir Physio und MTT – Medizinisch Therapeutisches Training. Meine neue Physiotherapeutin erweist sich als Glücksgriff. Ich bin durch eine Dokumentation über Ursus und Nadeschkin auf sie gestossen (ziemlich verrückte Geschichte…) und sie versucht verschiedene Techniken, bis sie mit der Massage der Faszien und dem Auslösen von Triggerpunkten erste Erfolge erzielt. Diese Methoden sind zwar echt schmerzhaft, aber für die Linderung meiner Schmerzen bin ich inzwischen zu allem bereit, auch wenn ich nach den Therapiestunden manchmal aussehe, als käme ich direkt aus einem Darkroom nach einer BDSM-Session – übersäht mit blauen Flecken.
Neben der Physio starte ich mit dem Training. Während den letzten Monaten bin ich immer müder und erschöpfter geworden. So eine krasse und tiefe Müdigkeit habe ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht erlebt. Mein Gehirn fühlt sich matschig an und ich schleppe mich durch die Tage – kein Wunder, wenn ich mich kaum noch bewegen kann. Wochenlang fühle ich mich vor dem Training erschöpft und nach dem Training noch erschöpfter. Aber ich kämpfe mich durch und ganz langsam wird es besser. Wegen der Hände (arbeiten ist immer noch schwierig) und der Erschöpfung suche ich Rat bei einem Schmerzspezialisten. Der verschreibt mir ein Nervenmedikament gegen die Schmerzen und Ergotherapie für die Hände.
Alle Energie für die Arbeit
Während ich mit der Ergotherapie beginne, gewöhne ich mich an ein intelligentes Diktierprogramm, das ich mir gekauft habe. Ich schreibe und korrigiere meine Texte nun per Sprachsteuerung. Das erfordert einiges an Geduld und neue Denkweisen, aber immerhin kann ich so wieder einigermassen Arbeiten. Weil ich nicht alles per Sprache steuern kann, muss ich jedoch spätestens nach fünf Stunden aufhören, da meine Hände zu sehr wehtun. Hobbies kann ich weiterhin vergessen, da alle aktiven Stunden für die Arbeit draufgehen. Das nervt mich. Trotzdem geht es mir psychisch recht gut und mir wird wieder einmal mehr bewusst, wie wichtig für mich gute Beziehungen sind. Wenn ich mit jemandem quatschen, bestenfalls auch zusammen lachen kann, treten die Schmerzen zumindest für kurze Momente in den Hintergrund.
Curable - meine Rettung?
Im Oktober 2020 höre ich zum ersten Mal von der App Curable. Ich probiere sie sofort aus und finde den Teil zum Wissen über Schmerzen und die Entspannungsübungen super hilfreich. Ausserdem höre ich auf der App die Story eines Mannes. Unglaublich, aber der hatte die gleichen Symptome wie ich, eine sehr ähnliche Reise durch die Welt der Medizin und hat schliesslich mithilfe von Curable massive Fortschritte gemacht. Ich schöpfe neue Hoffnung! Dank der Physio werden die Schmerzen in den Füssen ganz ganz laaaangsam besser. Ich kann wieder zwanzig Minuten spazieren gehen. Die Ergotherapie beende ich ohne grosse Erfolge.
Ein Rückschlag und endlich eine Diagnose!
Im November habe ich einen Rückschlag. Meine Hände bringen mich um. Obwohl ich alles versuche und pro Tag gefühlt zehn Quarkwickel mache, sind die Schmerzen unbändig. Ich kann mein Essen nicht mehr klein schneiden und kaum noch selbst Haarewaschen. Auch die Rückenschmerzen sind mit voller Wucht zurückgekehrt.
Mein (toller) Hausarzt meldet mich bei einem anderen Rheumatologen für eine Zweitmeinung an. Nach langer Wartezeit, einem sehr angenehmen Termin und einem weiteren ergebnislosen MRI von meinen Händen habe ich endlich eine Diagnose: chronisches Schmerzsyndrom. Die Ursache für meine Schmerzen liegt in meinem Gehirn.
Mein "kaputter" Alarmknopf
Whaaat?! Das kann ich zuerst nur sehr schwer annehmen. Der Spruch von meinem Bruder: «Dann ist also alles nur in deinem Kopf?», war verständlich und hat mich trotzdem ziemlich getroffen. Ist das echt so? Bilde ich mir etwa alles nur ein? Nein! Denn jeder Schmerz entsteht im Gehirn. Auch wenn der Arm gebrochen ist und eine organische Ursache vorliegt, entsteht das Schmerzsignal erst im Gehirn. Es ist ein Alarmzeichen für den Körper und stoppt ihn davor, sich weiter zu schädigen. Beim chronischen Schmerzsyndrom ist der Alarmknopf super sensibel. Auch völlig ungefährliche Signale vom Körper werden als Gefahren gedeutet und das Gehirn löst Alarm aus, obwohl da gar kein Feuer ist. Die Schmerzen sind aber trotzdem völlig real. Es ist, als ob mir mein Gehirn vorspielen würde, dass es klirrend kalt ist, obwohl das Thermometer 35 Grad anzeigt.
Nun, was kann man dagegen tun? Ich bekam ein bestimmtes Antidepressivum verschrieben, von dem man weiss, dass es nicht nur gegen Depressionen, sondern auch gegen chronische Schmerzen wirkt. Nach einer zweiwöchigen Eingewöhnungszeit mit echt krassen Nebenwirkungen hat sich mein Körper daran gewöhnt. Noch entscheidender ist für mich das ergebnislose MRI von meinen Handgelenken – so seltsam, das auch klingen mag. Ich weiss nun, dass da keine Entzündung ist, die ich verschlimmern kann und kann ganz anders mit den Schmerzen umgehen.
Kleine Schritte
Ich versuche weiterhin meinen Bewegungsradius Schritt für Schritt (buchstäblich) zu erweitern. Ungefähr ein Jahr nachdem ich mit der Physiotherapie angefangen habe, hat sich die Situation mit meinen Füssen soweit verbessert, dass ich mit der Therapie aufhöre. Zu dieser Zeit habe ich auch wieder mit dem Zeichnen angefangen. Ein Jahr nach meiner letzten Skizze! Ich beginne mit zehn Minuten am Tag, die ich langsam steigere. Ich habe immer wieder Rückschläge, kann aber immer besser damit umgehen.
Über zwei Jahre später kann ich wieder zweieinhalb Stunden am Stück gehen. Ich kann ohne Spracherkennungs-Software arbeiten, Texte schreiben, kann wieder kochen, Zähneputzen, kürzere Strecken Fahrradfahren, so lange zeichnen wie ich möchte, Gitarre spielen und sogar wieder kurze Strecken joggen ohne, dass mich die Schmerzen daran hindern😊. Ich habe mein Leben wieder zurück! Dabei haben mir sehr viele Menschen, Curable, aber auch mein Dickschädel geholfen. Dank verschiedenen Techniken konnte ich anders mit meinen Schmerzen umgehen und meinem Gehirn neue Impulse geben. Auch heute habe ich noch jeden Tag Schmerzen. Aber sie werden immer schwächer und die Zeitabstände zwischen den schlimmen Rückschlägen werden grösser.
Die Auslöser
Woher die Schmerzen kommen? Dafür erkenne ich inzwischen verschiedene Auslöser. Ich glaube in erster Linie war es ein grosses, fettes Ausrufezeichen von meinem Körper, der mir zeigen musste, dass er nicht mehr kann. Ich bin sehr oft über meine eigenen Grenzen hinausgegangen – ob aus Verantwortungsgefühl anderen gegenüber, wegen meines Perfektionismus und meinen hohen Erwartungen an mich selbst, aber auch aus dem Gefühl heraus, nicht gut genug zu sein. Inzwischen bin ich dankbar für meine Schmerzen. Ich habe viel über mich selbst gelernt und bin so sehr ich selbst wie wahrscheinlich zuletzt als kleines Kind. Und das tut so unglaublich gut!