Ich muss etwas gestehen: Ich bin ein kleines bisschen süchtig nach Podcasts. Alle die mich kennen, hören immer mal wieder: «… da habe ich kürzlich etwas spannendes in einem Podcast gehört...». Einer meiner Lieblingspodcasts heisst «The Rich Roll Podcast». Richs Gäste geben einen tiefen Einblick in ihr Fachgebiet und ich lerne jedes Mal viel Neues dazu. Eine Episode «Paul Conti, MD: Face & Heal The Trauma That Dictates Your Life” habe ich hier zusammengefasst. Sie passt zum Thema Schmerzen, da Menschen mit traumatischen Erfahrungen ein höheres Risiko haben, an chronischen Schmerzen zu erkranken.
"Mindestens die Hälfte aller Probleme, mit denen es Ärzte zu tun haben, sind eigentlich mentale Probleme. Die meisten davon, stammen von einem Trauma. (Paul Conti, MD)
Pauls grosse unsichtbare Veränderung Wie sehr ein Trauma das Leben auf den Kopf stellen kann, hat Paul Conti selbst erlebt. Paul war ein guter Schüler, hielt sich selbst für einen ziemlich klugen Typen, glaubte an sich und war überzeugt davon, dass er mit harter Arbeit seinen Platz in der Welt finden würde. Bis sein jüngerer Bruder Selbstmord beging. Dieses schlimme Ereignis veränderte seine Sicht auf die Welt und auf sich selbst grundlegend. Ohne, dass er es bemerkte. Er hielt sich und seine Familie für verflucht. Er war davon überzeugt, dass es eh nichts bringt, hart zu arbeiten. Sein ganzes Verhalten veränderte sich. Er wurde defensiv, dünnhäutig, seine Stimmung war gedrückt, er war ängstlicher als zuvor und traf deshalb ungesunde Entscheidungen. Er trank zu viel und hing mit den falschen Leuten herum. Die Welt war zu einem gefährlichen, schlechten Ort geworden.
Wie sehr ihn der Tod seines Brudes verändert hatte, merkte er erst, als er wegen unterschiedlichen Problemen in die Psychotherapie ging. Er realisierte, wie stark ihn dieses Erlebnis geprägt hatte. Sein Trauma war zu einer unsichtbaren Kraft geworden, die sein ganzes Leben beeinflusste. Heute ist Dr. Paul Conti Psychiater und Experte für die Behandlung von Traumata, Persönlichkeitsstörungen und psychiatrischen Erkrankungen.
Die Scham ist riesengross Warum konnte es überhaupt so weit kommen? Warum hatte dieses Erlebnis einen so starken Einfluss auf Pauls Leben? Ein ganz grosser Faktor sind die Scham- und Schuldgefühle, die bei einem traumatischen Erlebnis entstehen. Vergewaltigungsopfer schämen sich oft dafür, was ihnen passiert ist und geben sich selbst die Schuld. Paul schämte sich dafür, dass er nicht gemerkt hatte, wie schlecht es seinem Bruder ging. In der Familie wurde nicht über seinen Tod gesprochen.
Das ist leider nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es ist die soziale Norm nicht über schlimme Erlebnisse zu sprechen. Lieber verstecken wir die Angst, Schuld und Scham ganz tief in uns. Doch dort liegen sie nicht einfach herum wie ein Sack Kartoffeln im Vorratskeller. Vielmehr wirken sie wie ein Trojanisches Pferd und steuern unser Verhalten. Oft ohne dass wir es bemerken und leider zum Negativen.
Immer wieder die Evolution Früher war es wahrscheinlich ein Überlebensvorteil, nicht über schlimme Ereignisse zu sprechen. Die Leute wurden nicht alt und der Fokus lag auf dem kurzfristigen Überleben. Starb jemand auf der Jagd, musste man trotzdem etwas zu essen finden, um zu überleben. Auch dass negative Dinge so stark in Erinnerung bleiben, macht Sinn. Sich an leckeres Essen zu erinnern, war in grauer Vorzeit schön und gut. Aber sich an den einen Pilz zu erinnern, der einen beinahe getötet hätte, war überlebensnotwendig. Heute leben wir in anderen Umständen, aber diese evolutionären Muster wirken immer noch. Nur dass sie teilweise nicht mehr nützlich sind.
Gewöhnliche Traumas Wir müssen keine Vergewaltigung erleben, nicht im Krieg gewesen sein und keine alkoholabhängigen Eltern haben, um ein Trauma zu bekommen. Es können ganz «normale» Dinge sein, die in einem ganz normalen Leben passieren. Das kann der frühe Tod eines Elternteils sein, eine Fehlgeburt, eine Mobbingerfahrung oder emotional nicht erreichbare Eltern. Diese und ähnliche Dinge passieren nun mal. Aber nur weil diese Ereignisse «gewöhnlich» sind, heisst es nicht, dass sie keine dramatische Auswirkung haben. Wichtig ist nicht WAS passiert, sondern WIE das Gehirn auf eine bedrohliche Situation reagiert. Schlimme Erlebnisse können das Gehirn und damit unsere Wahrnehmung drastisch verändern.
Wir können sogar von Traumas betroffen sein, die wir selbst nicht erlebt haben! Wenn Eltern oder Grosseltern etwas Schlimmes erlebt haben, kann sich dadurch ihre Epigenetik verändert. Bestimmte Gene werden aktiviert oder deaktiviert und an die Nachkommen weitervererbt. Man konnte beispielsweise nachweisen, dass die Nachfahren von Holocausüberlebenden eine veränderte Stressreaktion zeigen.
Studie Holocaust: Yehuda R, Daskalakis NP, Bierer LM, Bader HN, Klengel T, Holsboer F, Binder EB.Holocaust exposure induced intergenerational effects on FKBP5 methylation. Biological Psychiatry; 21 August 2015 (Doi: 10.1016/j.biopsych.2015.08.005)
Angst vor Abgründen Ein unbehandeltes Trauma führt zu ungesunden Verhaltensmustern und kann zu allen möglichen psychischen und körperlichen Problemen führen: Sucht, Depression, Übergewicht, Schmerzen, Diabetes, …
Warum sträuben sich aber viele von uns, genauer hinzuschauen? Das liegt einerseits daran, dass unser Gesundheitssystem eher die Symptome behandelt, als die Ursache. Andererseits lassen uns Scham und Angst verstummen. Es ist einfacher von körperlichen Schmerzen zu erzählen, als von seelischen Abgründen. Aber nur wenn wir über die Abgründe sprechen, ist Heilung möglich!
Paul hatte grosse Angst seiner Psychologin vom Selbstmord seines Bruders zu erzählen. Er schämte sich, dass er nicht gemerkt hatte, wie schlecht es ihm ging und dachte, sie würde ihn ebenfalls verurteilen. Was sie natürlich nicht tat. Später hatte er selbst viele Patient*innen in seiner Praxis, die alle das Gleiche sagten: «Wenn ich darüber sprechen würde, könnte ich nie wieder aufhören, zu weinen.» Es ist wie bei Du-weisst-schon-wer in Harry Potter. Alle haben grosse Angst nur schon mit der Nennung des Namens etwas Dunkles heraufzubeschwören. Aber wie Harrys Schulleiter Dumbledore so schön sagt: «Es ist das Unbekannte, das uns Angst macht, wenn wir Tod und Dunkelheit betrachten, nichts anderes.» Wenn wir Scham und Angst ans Tageslicht holen, sehen wir, dass es da nichts zu befürchten gibt.
Raus aus dem Kopfkarussel Es hat Mut gebraucht. Aber als der Mann nach dreissig Jahren zum ersten Mal über den sexuellen Missbrauch spricht, den er erlebt hat, fühlt er sich sofort besser. In einem sicheren Umfeld endlich aussprechen zu können, was manchmal seit Jahrzehnten wie ein Karussell in endlosen Kreisen seine Bahnen im Kopf gezogen hat, bringt Erleichterung. Das hat Paul Conti unzählige Male erlebt. Reden hilft. Mit der richtigen Unterstützung kann nur schon das Hinschauen ungeahnte Kräfte wecken.
Trau dich Durch ein Trauma kann die Brille, durch die wir die Welt und uns selbst sehen plötzlich eine andere Färbung bekommen. Es lohnt sich, mutig zu sein, genau hinzuschauen und sich Unterstützung zu suchen.
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