Die letzten Jahre waren für mich geprägt von Krisen, Wachstum, Veränderung und Neuorientierung. In herausfordernden Zeiten wird es existentiell und ich bin wahrscheinlich nicht die Erste, die sich dann fragt: „Was ist der Sinn des Ganzen?“
Als gläubige Christin, wäre die Sache klar. Dann läge der Sinn des Lebens darin, ein gottgefälliges Leben zu führen und durch meine guten Taten in den Himmel zu kommen. Wäre ich Buddhistin, würde ich versuchen, möglichst viel gutes Karma zu sammeln, um das Leiden zu überwinden und in ein besseres Leben geboren zu werden oder es gar ins Nirvana zu schaffen. Wäre ich eher philosophisch als Existentialistin unterwegs, wäre ich frei und es wäre meine eigene Aufgabe, durch meine Entscheidungen und Handlungen meinem Leben einen Sinn zu geben. Würde ich als Anhalter durch die Galaxie düsen, dann wäre die Antwort „42“. Wäre ich eher esoterisch unterwegs, dann würde ich hier auf der Erde meinen Seelenplan erfüllen. Wäre ich Ian McConnell, hätte das Leben keinen Sinn und ich fände das ganz wunderbar:
Es bleibt ein Mysterium. Und vielleicht ist das auch gut so. Ich glaube nicht, dass ich eine Bestimmung habe, dass ich mir schon vor meiner Geburt meinen Seelenplan überlegt habe und ob es Gott gibt, weiss ich nicht. Ich bin spirituell, weil ich daran glaube, dass es mehr gibt als wir sehen und messen können. Aber auf dem Wegweiser, dem ich folge, steht nicht „Sinn des Lebens“, sondern „sinn-volles Leben“. Ich möchte das volle Leben. Eines mit Tiefgang. Ich möchte mich lebendig und verbunden fühlen, im Moment sein und allen Emotionen Platz geben.
Wie es sich anfühlt, wenn diese Lebendigkeit fehlt, habe ich während der Coronazeit gemerkt. Ich musste im Homeoffice arbeiten und habe irgendwann jedes Staubkorn in der Wohnung gekannt. Auch wenn ich einen „produktiven“ Tag im Büro hatte, haben sich manche Tage leer und substanzlos angefühlt. Es war ein sinn-leeres Leben. Ich habe immer das Gleiche gesehen: die gleiche Wohnung, den gleichen Supermarkt, die gleichen wenigen Menschen, die gleiche Gegend, die gleichen Gesichter auf dem Teams-Screen. Keine zufälligen Begegenungen, keine kleinen Überraschungen, die den Alltag abwechslungsreich machen, keine Ausflüge, die neuen Input geben. Rausgehen konnte ich schon, war körperlich aber so eingeschränkt, dass ich mich zwischen einem zwanzigminütigen Spaziergang und dem Einkaufen in der Migros entscheiden musste. Mir fehlte die Resonanz. Meine Kreativität, meine Ideen, meine Arbeit, meine Gedanken flossen in den Computerbildschirm, der alles stumpf aufsog und mir durch die spiegelnde Oberfläche nichts zurückgab.

Ich glaube, viele sehnen sich nach mehr Tiefe und Verbundenheit, aber suchen am falschen Ort. Es war noch nie so leicht, sich abzulenken und unangenehmen Gefühlen aus dem Weg zu gehen, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Doch das führt nicht zu einer inneren Fülle, sondern zur Reizüberflutung und der Entfremdung von sich selbst.
Christina Kessler drückt es so aus:
„Der übliche Aktivismus, den wir für normal und sogar für erstrebenswert halten, weil er in der westlichen Kultur mit gesellschaftlicher Anerkennung belohnt wird, schüttet die Quelle zu, lässt die Inspiration versiegen, stoppt den Flow und die Entfaltung der flüssigen Liebesintelligenz. Man kommt aus dem Machen nicht mehr heraus, während das Leben an einem vorbeiläuft, und trotz zunehmenden Wohlstands wird man immer ärmer an Lebendigkeit.“ (Wilder Geist wildes Herz, S. 197).

„Keine Eile, ich habe viel Zeit“. Das ist etwas, das wir uns alle wünschen und doch sorgt kaum jemand aktiv dafür, mehr Zeit zu haben. Da schwingt ein Hauch Faulheit mit.

Lieber sind wir „mega busy“, „voll im Stress“ und haben generell „viel um die Ohren“. Viel Stress führt aber auch zu Scheuklappen. Mit Tunnelblick rast man von einer Task zur anderen und nimmt die Umgebung nur verschwommen wahr. Durch das erhöhte Stresslevel ist man dauernd angespannt und kann dadurch weniger mit der Umgebung mitschwingen. Aus vollem Herzen zu lachen, empathisch auf seine Mitmenschen zu reagieren,
Pausen zu geniessen - all das gerät in den Hintergrund. Der Körper soll funktionieren, während der Kopf strukturiert und Dinge erledigt. Das Leben verwandelt sich in eine einizige To-do-Liste.
Das kenne ich aus eigener Erfahrung: Während einer sehr anstrengenden Arbeitswoche, habe ich müde die Eingangstür zu unserer Wohnung aufgeschlossen. Hinter der Glasscheibe hing ein Flyer: Ein Aufruf für Spenden für die Opfer der Überschwemmungen in Valencia in Spanien. Eigentlich eine wundervolle Idee. Mein erster Gedanke war aber: "Nicht noch etwas, um das ich mich kümmern muss!" Das hat mir zu denken gegeben. Als ich so starke Probleme mit den Füssen hatte und unterwegs selbst von der Generation ü70 überholt worden bin, ist mir aufgefallen, wie sehr alle in der Gegend herumhetzen. Selbst am Wochenende "gehen" Herr und Frau Schweizer nicht spazieren, sie "rennen" spazieren. Ich war früher auch so unterwegs, heute liebe ich es, durch die Gegend zu schlendern. Ganz nach dem Motto: "Wer langsamer geht, sieht mehr vom Leben".
Zu einem sinn-vollen Leben gehört für mich das Einswerden mit dem Leben mit allen Sinnen und das ist einer der Gründe, warum ich wieder in der Schule arbeite. Denn ich empfinde die Arbeit als sinnvoll und als sinn-voll. Einerseits ist es sehr sinnstiftend Menschen auf ihrem Weg zu begleitend, andererseits fühle ich in der Schule, dass der Tag lebendig ist. Es sind duzende kleine und grosse Begegnungen, die mich herausfordern und bereichern. Ich gebe etwas weiter und die Reaktion folgt sofort. Da sind Menschen, die mich spiegeln und ich spüre mit dem ganzen Körper, dass was läuft. Es ist manchmal sehr anstrengend. Aber ich habe nie das Gefühl, dass ein Tag effizient-stumpf an mir vorbeigezogen ist. Es sind bunte, abwechslungsreiche, lebendige Stunden, die vorbeigehen wie im Flug und die sich trotzdem in ihrer Gesamtheit länger anfühlen, als die Tage alleine im Homeoffice. (Randnotiz: Ich weiss aber auch, dass für mich vier Lektionen Schullebendigkeit pro Tag ausreichen. Habe ich eine höhere Dosis Schulaction, geht es an die Kernenergie). Ich glaube, je mehr Sinne im Einsatz sind, desto tiefer wird die Erfahrung.

Wenn ich durch den Wald spaziere, den weichen Boden unter den Schuhsohlen fühle, das ferne Hämmern des Spechts in den Ohren habe, die frische Brise auf der Haut spüre, die bunten Blätter, die von den Baumdächern durch die hohen Säulen der Buchen heruntersegeln sehe - dann fühle ich mich lebendig. Wenn ich im Sommer ins warme Seewasser abtauche (ja, ich bin ein Warmduscher, der am liebsten 27 Grad Wassertemperatur hat), die Rufe der Badigäste nur noch gedämpft wahrnehme und mich wie ein Delfin durchs trübe Seewasser bewege - dann fühle ich mich lebendig. Die kostbaren Momente, wenn ich mit einer anderen Person tanze und wir Herz an Herz miteinander verbunden sind, ich mit jemandem ein tiefes Gespräch habe oder wenn ich auf dem Balkon sitze, die Wolken vorbeiziehen lasse, das Rauschen der Bäume in den Ohren habe und mir von einer Tasse Kaffee die Hände wärmen lasse.
Wobei fühlst du dich lebendig? Was macht dein Leben sinn-voll?

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