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Serena

No pain – no gain

Aktualisiert: 2. Juni 2022

Mit chronischen Schmerzen scheint das Leben zusammenzuschrumpfen, wie ein drei Tage alter Luftballon – pffrrrrrr. Kleiner und kleiner wird der Bewegungsradius. Die Schmerzen scheinen zu bestimmen, was geht und was nicht. Was trinken gehen mit Freunden? Neee, heute nicht. Wandern am Wochenende? Vergiss es, sei froh, wenn du einmal um den Block humpeln kannst. Jemandem eine Geburtstagskarte schreiben – von Hand? Nö, sicher nicht! Mit Kindern spielen? Denk nicht einmal dran, du kommst doch kaum vom Sofa hoch…


Überall tauchen unsichtbare Mauern auf. Was früher ganz selbstverständlich zum Alltag gehörte, wird mühsam oder ist gar nicht mehr möglich. Immer mehr Dinge, die Spass machen, fallen weg, gehen nicht mehr, weil sie zu schmerzhaft oder zu anstrengend sind. Nur schon die pure Existenz braucht unglaublich viel Kraft, das ständige Ankämpfen gegen den Schmerz und der Umgang mit Gedanken, die dich mit dem Sinn des Lebens konfrontieren.

Aber dann ist da noch die andere Seite, die Seite, die wahrscheinlich erst auf den zweiten Blick sichtbar wird: Zu einer Medaille gehören immer zwei Seiten. Und wie sagt man so schön: No pain – no gain (kein Schmerz – kein Gewinn). Klar, das ist ein Spruch, der eher im Zusammenhang von Muskeln und Fitness fällt, aber ich finde, er passt auch gut zu chronischen Schmerzen. Immer wieder während meiner schlimmsten Zeit, fiel mir auf, dass ich trotz dem ganzen Leiden auch sehr viel lerne.


Ich hätte nie gedacht, dass man trotz starker Schmerzen glücklich sein kann – aber da sass ich, auf dem Balkon, mit meiner besten Freundin und lachte Tränen. Die Welt befand sich im Lockdown, mein Bewegungsradius beschränkte sich auf Wohnung und Balkon, ich konnte fast nichts mehr machen und doch: Ich war in diesem Moment total gelöst und glücklich. Der kleine Bewegungsradius hat meinen Sinn für kleine, schöne Dinge geschärft: glitzernde Tautropfen im Gras, das Spiel, der in der Sonne zitternden Blätter oder ein kleiner, filigraner Vogel besassen plötzlich eine unglaubliche Schönheit. Ich habe gemerkt, wie viel Kraft mir die Natur gibt.


Nun geht es mir zum Glück deutlich besser und mein Bewegungsradius ist wieder grösser geworden. Und doch, ich bin nicht mehr ganz dieselbe wie vorher:

  • Energie- und Schmerzlevel sind jeden Tag anders. Ich habe gelernt, dass es hilft im Hier und Jetzt zu leben und zu akzeptieren, was gerade ist. Dann treffe ich mich halt mit einer Kollegin mit 40% Energie oder mit Schmerzen. Wenn’s nicht geht, gehe ich eben wieder nach Hause.

  • Wo ich mich früher über Leistung definiert habe und meinem Körper kaum eine Pause gegönnt habe, höre ich nun auf ihn und nehme ihn ernst. Ab und zu ein Mittagsschläfchen? Damit hättest du mich früher jagen können, heute bin ich dabei 😊.

  • Ich gehe netter und nachsichtiger mit mir um. Dadurch bin ich auch etwas lockerer geworden. Musste ich früher alles möglichst gut, sogar perfekt machen, geht es mir heute (z.B. beim Sport) vor allem um Freude und Spass. Und Überraschung: Oft klappen Dinge mit dieser Lockerheit sogar besser als zuvor 😉.

  • Ich kann Hilfe deutlich besser annehmen und habe nicht mehr das Gefühl alles selbst schaffen zu müssen. Wenn es mir mal nicht gut geht, quatsche ich mit einer Freundin oder meiner Familie.

  • Ich habe vieles erlebt, wovon ich nie gedacht hätte, dass ich mich damit einmal auseinandersetzen muss. Dadurch bin ich toleranter geworden. Ich habe mir in den letzten Jahren viele Lebensgeschichten reingezogen (Danke Spotify...) und glaube, dass jeder Mensch aus einem bestimmten Grund ist, wie er oder sie ist. Wir alle haben unseren eigenen Rucksack zu tragen.

  • Gerät man in die Mühlen unseres Gesundheitssystems merkt man schnell, dass man die Initiative selbst in die Hand nehmen muss. Nachfragen wegen Terminen, nach alternativen Behandlungsmethoden googeln, nachhaken, wenn es nicht weitergeht, weil ein uninteressierter Arzt seinen Bericht nicht schreibt (unter Umständen vor Verzweiflung weinend) - ich habe gelernt, mich für mich einzusetzen! Es ist mein Körper, ich entscheide selbst, was damit geschieht. Auch wenn es oft schwierig ist zu entscheiden, welche Behandlung man machen möchte oder nicht, ich habe gelernt, dass ich auf mein Bauchgefühl vertrauen kann.

  • Apropos Schulmedizin: Da bin ich ziemlich hart auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Von wegen: «Heute muss niemand mehr Schmerzen leiden.» So ein Quatsch! Das empfinde ich aber nicht nur als negativ, sondern hat mich offener für Alternativen und neugieriger auf ganz aktuelle Ergebnisse aus der Forschung gemacht (z.B. aus den Neurowissenschaften).

  • Bei chronischen Schmerzen kommen nach einer Phase der Hoffnung (Das kommt schon wieder!) auch schwierige Gefühle hoch. Trauer wegen all der Dinge, die man nicht mehr tun kann, Erschöpfung von den ewigen Schmerzen, Zukunftsängste, … Früher hatte ich grosse Mühe damit, negative Gefühle zuzulassen und habe unbewusst versucht, sie zu verdrängen. Nun sehe ich sie als Wellen. Sich gegen die Welle anzustemmen, kostet viel Kraft und ist ziemlich sinnlos. Ich versuche die Welle zu reiten oder mich bewusst in die Welle reinzustürzen. Es ist erstaunlich wie schnell sich Gefühle dadurch verändern und wieder vergeht.



Natürlich gibt es auch immer wieder Tage, die schwierig sind. Aber das gehört einfach dazu. «Annehmen, mich nicht selbst fertig machen oder verurteilen, im Moment leben – was ist gerade möglich?», sind Worte, mit denen ich mir dann versuche, mir selbst Mut zu machen. Im Leben geht es immer auf und ab, das ist wie Tag und Nacht weder gut noch schlecht, sondern gehört einfach zur Natur des Menschen. Weshalb also sich dafür schämen, dass man gerade im Dunkeln steht? Das geht allen ab und zu so. Irgendwann geht die Sonne wieder auf 😊.

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