Mein Qigong Retreat im Shaolin Temple Europe

«Let go, … release,…»
Entspannen?! Innerlich verfluche ich unseren Shifu Shi Heng Zuan. Meine Oberschenkel zittern, Schweiss tropft von meinen Ellenbogen auf den sandigen Boden und mein Kopf ist bestimmt knallrot. Seit einer Viertelstunde befinden wir uns in einer Position, die an einen breiten Squad erinnert, atmen ein und aus und bewegen uns dabei zehn Zentimeter hoch und wieder runter. Rücken gerade, unterer Rücken entspannen, Bauch entspannen – es ist eine sogenannte «Burning Exercise», mit der wir Kondition aufbauen, unsere Muskeln gezielt ansteuern und durch den Schmerz hindurchgehen sollen. Zumindest mit dem letzten Teil habe ich Erfahrung 😉. Shaolin Mönche haben durch das jahrelange Training eine so gute Verbindung zu ihrem Körper, dass sie ihren Muskeln den Befehl geben können loszulassen und deshalb eine gefühlte Ewigkeit ohne Anstrengung dieselbe Position halten können.
Das jahrelange Training fehlt mir eindeutig! Aufgeben ist aber keine Option, mein Ehrgeiz ist erwacht und als wir endlich die «Erlaubnis» erhalten, wieder in eine aufrechte Position zu kommen, fühlt es sich an wie ein kleiner Sieg. Das Training ist sehr intensiv. Squads machen wir vergleichsweise selten, doch Qigong wird immer leicht in den Knien ausgeführt und weil wir bis zu acht Stunden am Tag trainieren, brennen die Oberschenkel. Ich staune über meine 60-jährige Zimmernachbarin Vi aus London, die das ganze Training scheinbar mühelos mitmacht (und sogar noch eine Woche länger bleibt für ein weiteres Retreat – Respekt, sag ich da nur!).
Weil man beim Chan Yuan Gong die Füsse fast immer in der gleichen Position hat und sich wenig von der Stelle bewegt, flammen meine Fuss- und Knöchelschmerzen wieder auf. Am sechsten Tag weiss ich nicht, was ich tun soll und bin durch die mentale und physische Erschöpfung den Tränen nah. Wie weit darf ich meinen Körper pushen, wann soll ich aufhören? Die anderen muntern mich auf und ich entscheide mich dazu, weiterzumachen, aber dabei sehr achtsam mit meinem Körper zu sein und früh genug abzubrechen. Beim Aufwärmen setze mich ab und zu an den Rand und mache einige Übungen nur mit den Armen. Nach drei Stunden geht es tatsächlich wieder besser mit den Schmerzen 😊
In dieser intensiv Woche zeigt eine der grössten Herausforderungen, wenn man an chronischen Schmerzen leidet: Wann aufhören? Wann durchziehen? Die schöne, fast philosophische Antwort, die ich für mich gefunden habe, lautet: beides. Tätigkeiten oder Dinge, die man gerne macht wegen der Schmerzen aufzugeben, führt dazu, dass der Bewegungsradius immer kleiner wird und diese Dinge als «gefährlich» erscheinen und mit der Zeit nur schon deswegen Schmerzen auslösen. Wenn man jedoch im Gegenteil versucht, weiterzumachen wie zuvor und alle Warnsignale des Körpers ignoriert, wird man wohl schnell die Quittung dafür bekommen (ich hab schon so viele Quittungen gesammelt, ich kann sie gar nicht mehr zählen 😉). Die Lösung liegt viel mehr im Dazwischen. Alles ausprobieren, alles tun, aber mit einem sehr achtsamen Umgang mit dem Körper. Es ist ein Tanz zwischen Körper und Geist. Manchmal führt der Körper, manchmal der Geist, doch niemand zerrt am anderen herum und versucht ihm seinen Willen aufzuzwingen, es ist ein gemeinsames Vorankommen.
In der Schmerzmedizin nennt sich das Ganze «Pacing». Doch auch wenn man sich im Pacing befindet, das heisst nicht zu grosse Schritte auf einmal macht und auf seinen Körper hört, kann es sein, dass die Schmerzen während einer Tätigkeit plötzlich stärker werden.
Ich tue dann folgendes:
Ich höre mit der Aktivität auf oder fahre die Intensität zurück. Beim Tanzen mache ich die Bewegungen kleiner, beim Gehen werde ich langsamer, beim Zeichnen höre ich auf, beim Arbeiten lehne ich mich im Stuhl zurück etc.
Wenn möglich schliesse ich die Augen und spüre in meinen Körper hinein. Wo fühle ich den Schmerz? Wie fühlt sich der Schmerz an? Kenne ich diesen Schmerz? Welche Gefühle nehme ich wahr? Oft geht mit erhöhten Schmerzen auch ein Gefühl der Angst und Beunruhigung einher. Das ist vollkommen logisch, denn Schmerz ist ein Alarmsignal. Doch bei chronischen Schmerzen gerät man damit schnell in eine Schmerz-Angst-Spirale, die dazu führt, dass man sich immer weiter zurückzieht. Es geht darum, den Schmerz ernst zu nehmen, aber nicht mit einem Gefühl zu verknüpfen. Deshalb folgt der nächste Schritt…
Ich atme einige Male langsam ein und aus, konzentriere mich auf den Atem. Mit der ruhigen Atmung signalisiere ich meinem Bodyguard, dass wir uns in einer sicheren Situation befinden und er sich wieder beruhigen kann. Und ja, ich stelle mir den Bodyguard wirklich als Person in meinem Gehirn vor und spreche auch ab und zu mit Amy und Limbisch. Falls das etwas verrückt klingt – mir hilft's und ich steh dazu 😉.
Danach gibt es mehrere Möglichkeiten, je nachdem wo ich gerade bin und wie stark die Schmerzen sind. Atem- und Achtsamkeitsübung Ich konzentriere mich einige Minuten auf meinen Atem und nehme bewusst wahr, was ich fühle, höre und rieche. Somatic Tracking Ich verwende eine angeleitete Somatic Tracking Übung von Spotify, YouTube oder der App Curable und bringe meinem Gehirn bei, sich sicher zu fühlen. Visualisierung Ich nehme Amy gedanklich in den Arm, rede ihr gut zu, sage ihr, dass alles okay ist und sie sich in Sicherheit befindet. Kein Witz! Ich hab das mal mitten während einer Zumbalektion gemacht, als meine Arme und Hände plötzlich wieder gebrannt haben wie Feuer. Nach einigen Sekunden hat der Schmerz dadurch soweit nachgelassen, dass ich weiter tanzen konnte. Gefühle zulassen Ich setze mich hin, schliesse die Augen und spüre in meinen Körper. Ich nehme den Atem bewusst wahr und lasse die Gefühle kommen, die gerade da sind – ohne Bewertung. Sie dürfen einfach sein. Oft sitze ich da und spüre eine leichte Beunruhigung. Wenn ich dieser Beunruhigung Raum gebe und hineinfühle, verändert sich das Gefühl zu Angst. Auch diesem Gefühl gebe ich Raum und oft sprudelt dann Angst aus dieser Quelle der Beunruhigung. Woher die kommt? Keine Ahnung. Ist das Beängstigend? Manchmal schon. Dann hilft es, sich wieder auf den Atem zu konzentrieren, der als eine Art Anker wirkt. Ich lasse die ganze Angst aus der Quelle sprudeln und wie eine Welle durch meinen Körper fliessen. Dabei kann es schon mal passieren, dass ich schneller atme oder mir die Tränen kommen. Dann mache ich mir bewusst, dass gerade überhaupt nichts passieren kann und halte mich am Atem fest. Irgendwann wird diese Welle aus Angst immer kleiner und ebbt schliesslich ganz ab. Uff! Dann fühle ich mich oft etwas leichter. So konnte ich schon Migränen abwenden oder Rückenschmerzen lindern.
Ach ja, und was das Qigong betrifft:
Abgesehen von einigen kleinen Übungen habe ich seither kein Qigong mehr gemacht. Das war einfach eine zu hohe Einstiegsdosis… Doch ich schliesse nicht aus, dass ich irgendwann wieder damit anfange! Und gerade weil es eine so intensive Woche war, die mich echt an meine Grenzen gebracht hat, denke ich oft daran zurück. An die Analogien zwischen Qigong und dem Leben, an spannende Gedanken aus dem Buddhismus, an die Gespräche über Gott und Welt (oder eher Buddha und die Welt 😉) mit tollen Leuten. Da war Sam, der Belgier, der dank einem Burnout seine Liebe zum Kung Fu wieder entdeckt hat, Vi aus London, die als junge Erwachsene aus dem Vietnam nach London geflüchtet ist und einmal mit der Queen Tee getrunken hat, die bezaubernde Ena aus Bosnien, die es faustdick hinter den Ohren hat, Mary aus Holland, die unglaublich gut umarmen kann, Helene aus der französischen Schweiz, die mit Qigong ihre Multiple Sklerose in den Griff bekommen hat und so viele mehr. Schön war’s mit euch!
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